Schattierungen der Freiheit

Heute feiert Krzysztof Zanussi seinen 82. Geburtstag. Ich gratuliere ihm herzlich dazu. Meine Entdeckung seines Werks schreitet unvermindert langsam voran. Im letzten Jahr ließ ich meine Überlegungen von einem Dokumentarfilm über ihn leiten. Nun bildet ein Interview den Ausgangspunkt, das ein aufschlussreiches Zeitdokument aus der Spätphase des Kalten Krieges ist und dessen Vokabular zuweilen seltsam gegenwärtig klingt.

Ich fand es in einer alten Ausgabe von „Film Comment“, der Februarnummer 1986, die dem Thema „The Cold War is back““ gewidmet ist. Der Coverboy ist Dolph Lundgren aus „Rocky 3“, Zanussi befindet sich also in illustrer Gesellschaft. Marcia Pally interviewt ihn und seine Darstellerin Maja Komorowska aus Anlass des US-Starts von „Ein Jahr der ruhenden Sonne“. Hauptsächlich geht es jedoch um die aktuellen Zustände in Polen - drei Jahre nach Ende des Kriegsrechts, das Jaruzelski 1981 verhängt hatte – und die Frage der künstlerischen Freiheit. Zanussi nutzt das Gespräch zu einem ausführlichen Systemvergleich.

Die Drei fremdeln miteinander. Durchaus ein transatlantischer Kulturschock. Pally beschreibt den Regisseur als einen Europäer alter Schule, der sich bei der Begrüßung vornehm verneigt, fast die Absätze zusammenschlägt. Sie erlebt ihn als galant, gewinnend und frostig. Pally ist eine bewundernswert offensive Interviewerin, die als überzeugte Feministin argumentiert und Kontroversen nicht scheut. Ein Subtext des Gesprächs, den sie kenntlich macht, ist Zanussis vormundschaftliche Haltung gegenüber der Schauspielerin. Er dolmetscht für sie, korrigiert sie gelegentlich, bis die Frauen ins Französische ausweichen, das sie beide nicht fließend beherrschen. Aber sie verstehen sich besser.

„Tightrope“ lautet der Titel des Artikels, was die Situation der Interviewten präzise benennt. Sie müssen sich genau überlegen, was sie über das Regime sagen. Komorowska spricht emphatisch. Während des Kriegsrechts stellte sie ihren Beruf hintan, weil sie glaubte, als Fürsprecherin der politischen Häftlinge einen wichtigeren Beitrag leisten zu können. Zanussi lässt an seiner Distanz zum Regime keinen Zweifel, übt aber keine scharfe, sondern moderate Kritik an ihm. Jedoch bekennt er eine tiefe Enttäuschung, spricht als ein besorgter Staatsbürger. Er sucht keine Ausflucht in der Ambiguität, sondern wägt ab; er ist auch als studierter Naturwissenschaftler beim Gespräch zugegen. An eine Generallinie, der sich Künstler in Osteuropa unweigerlich fügen müssten, glaubt er nicht. Polen nimmt er ohnehin aus. Dessen Traditionen seien mitteleuropäisch, westlich (im Gegensatz etwa zu einem östlichen Mystizismus); dem Osten gehöre das Land seit Kriegsende nur politisch an.

Es bleibt genug Angriffslust auf die westliche Konsumgesellschaft übrig, mit deren Heuchelei er scharf abrechnet. Während dort eine erhebliche moralische Verwirrung herrsche, seien die Bedingungen der Freiheit in seinem Land klarer. Aus US-amerikanischer Perspektive erscheine sie begrenzt. Aber er betrachte sie als einen Prozess, in dem man bewusste Entscheidungen treffen muss. Merkwürdig, welch anderen Klang die Begriffe, die er verwendet, momentan gerade haben: „test“, „confinement“, „locked up“, „antibodies“, „vaccine“ (die Kunst als Impfstoff gegen den Zynismus). Wer weiß, welche Haltung er zur aktuellen Debatte um die Aufhebung der Maskenpflicht hat? Gewiss eine moderate.

Für ihn ist die Einschränkung der Freiheit eine existenzielle Frage. Sein eigener Lebensplan dient ihm als Beispiel. Als junger Mann lernte er nach dem Krieg mehrere Fremdsprachen, musste aber befürchten, sie nie anwenden zu können. Die neue politische Ordnung war eine Haft, aus der er sich befreien konnte. Pally beschreibt den Filmemacher als jemanden, der neue Welten für sich erfindet. Ein trefflicher Leitgedanke: Zanussi filmt Gesellschaften unter einer Glashaube. „Zwischenbilanz“ von 1974 beginnt als sozialistische Alltagsidylle. Wojciech Kilars Musik ist so melodiös wie eine Partitur von Michel Legrand. Aber Slawomir Idziaks Kamera schafft eine sacht klaustrophische Stimmung, indem sie Fenster und Türen als Rahmen nimmt; eine Schule wird durch ein Gitter gefilmt. Komorowska spielt eine Buchhalterin, die in eine Lebenskrise gerät, als sie in der Vierteljahresbilanz eine Fehlsumme entdeckt. Sie hat plötzlich das Gefühl, sie würde immer eine Schuld abzahlen. Sie will ihren Mann verlassen, aber nicht, um ihn gegen einen anderen einzutauschen, sondern gegen die Freiheit. Der US-Titel lautet übrigens „A Woman's decision“, womit Pally und Zanussi wahrscheinlich beide einverstanden sein könnten. Von der amerikanischen Kritik wurde er als eines der besten Frauenporträts diesseits von Bergman gefeiert.

In „Spirale“ (1978) geht es um eine andere Art von Freiheit: den Spielraum der Lebenswut. Ein Fremder kommt in ein winterliches Ferienhotel und provoziert unaufhörlich die anderen Gäste. Es ist eine rätselhafte Figur (er kommt den anderen irgendwie bekannt vor), fast macht man sich auf eine Allegorie gefasst. Aber die Konfrontation gegensätzlicher Lebenshaltungen gerät dann doch zu robust. Seine Zudringlichkeit wirkt barsch, aber sein Protest offenbart eine tiefe Verwundbarkeit. Heute würde man das einen Borderline-Fall nennen. Eingangs, wir wissen nicht, aus welcher Lebenssituation er flieht, fällt sein Schlüsselbund in den Schnee. Er hebt es nicht auf, sondern schiebt es fort, bis es in einem Bach landet. Zanussis Filme handeln von den Fallen, in die das Individuum tappt. Aber es hat mitunter auch die Freiheit, sie sich selbst zu stellen.

 

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