Erwachen aus dem Winterschlaf
Wie wohl fühlen Sie sich bei dem Gedanken, wieder ins Kino zu gehen? Diese Frage wäre vor dem Frühjahr letzten Jahres wohl kaum jemandem in den Sinn gekommen. Aber seither beschäftigt sie uns, latent und hoffentlich bald wieder konkret. Jeder wird eine eigene, wenngleich widerrufliche Antwort auf sie haben. Ist diese Gemengelage aus Verunsicherung und Verlangen statistisch messbar?
Das Branchenblatt "Variety" wollte es genau wissen. Seit Beginn der Pandemie führt die Zeitschrift mehrere - nicht nur repräsentative, sondern tatsächlich großflächige - Umfragen unter potenziellen KinogängerInnen durch. Im April 2020 bejahten dies lediglich 23 Prozent der Befragten. Genau ein Jahr später waren es bereits 63 Prozent, im Mai gar 70. Bei Erhebungen in Frankreich und England ermittelte "Variety" zum gleichen Zeitpunkt eine Bereitschaft von immerhin 55 Prozent. So oder so: Seit dem ersten Lockdown steigt die Kurve der Sehnsucht kontinuierlich nach oben.
Derweil konnte man in Deutschland den Eindruck gewinnen, nicht mehr die Politik würde die Rückkehr ins Kino hinauszögern, sondern der Hauptverband Deutscher Filmtheater (HDF) trete auf die Bremse. Deren Vorstand Christine Berg machte die Wiedereröffnung vom Wegfall der Maskenpflicht am Platz abhängig sowie der Möglichkeit, dort Softdrinks und Süßigkeiten zu verzehren. Sie kann sich offenbar nicht vorstellen, dass das Publikum vielleicht einfach schon wegen des Kinoerlebnisses zurückkehren möchte und vorerst auf gesundheitsschädigenden Proviant verzichten könnte. Auch die alte deutsche Klage über das Fehlen zugkräftiger Lokomotiven wurde wieder laut.
Ein Blick über die Landesgrenze hinaus könnte Frau Berg Aufschluss darüber geben, ob Kinogänger und -betreiber derzeit schon gewillt sind, diese (auch psychologischen) Barrieren zu überwinden. In der Schweiz etwa sind die Filmtheater schon seit dem letzten Monat wieder geöffnet. Mit einer Stegreifumfrage unter Programmkinos und Journalisten wollte ich mir ein Stimmungsbild verschaffen. Es fiel gemischt aus. Ein zürcher Redakteur sprach von einer verhaltenen Rückkehr ins Kino (kann am Nationalcharakter liegen), er erwartete einen gewissen Ansturm auf Open-Air-Vorstellungen; ein Kinobetreiber spürte weiterhin ein gewisses Zögern, das ihn jedoch nicht entmutigte. Das darf, aber muss man nicht als Zweckoptimismus nehmen. Eine Kinoleiterin aus Zürich bezifferte die aktuelle Auslastung mit 2/3 der zuvor üblichen Eintritte, berichtete aber auch von ausverkauften Vorstellungen, für die Zweittermine anberaumt werden mussten. Ihre Kollegin in St. Gallen entdeckte eine wiedererweckte Lust auf Filme und eine echte Freude über die Rückkehr. Die Zahlen in der Gesamtschweiz sind nicht schlecht, der Box-Office-Champion ist Thomas Vinterbergs »Der Rausch«.
Ab dem 17. Mai zogen Großbritannien (zuerst England, Schottland und Wales, seit letzter Woche auch Nordirland), Österreich sowie Frankreich sukzessive nach. Im Vereinigten Königreich ließ sich der Wiederbeginn resolut an; wenngleich nicht ganz so rauschhaft, wie "Variety" titelte ("British Box office roars back with Peter Rabbit 2") Sony hatte den Starttermin des neuen Wuschelhasen-Abenteuers gar zwei Monate vorverlegt: Ein Familienfilm ist eine sichere Bank. Auf dem zweiten und dritten Platz folgten »Nomadland« und »Godzilla vs. Kong«, der Erfolg von Chloe Zhaos Oscargewinner und das beachtliche Einspiel des Monster-Gipfeltreffens sind um so erstaunlicher ist, als beide Filme bereits auf Streamingplattformen laufen. Die Reboots von »Saw« und »Mortal Kombat« starteten relativ robust, auch »Ammonite« verzeichnete einen erfreulichen Zuspruch.
Aus Frankreich wiederum lässt sich eine veritable Erfolgsgeschichte berichten. Eben nach wie vor die exception culturelle. Die Kinobesitzer rechneten für den ersten Tag mit 200000 Zuschauern, es waren dann 300000. Insgesamt wurden im Zeitraum vom 19. bis 25. Mai mehr als zwei Millionen Kinokarten verkauft. Im Rekordjahr 2019 waren es in der gleichen Woche 2,4 Millionen, was beweist, dass auch unter rigorosen Einschränkungen – eine maximale Auslastung von 35%, das Wegfallen der entscheidenden Abendvorstellung dank Ausgangssperre – Zuschauerzahlen wie vor Corona durchaus möglich sind. Ein erstaunliches Phänomen der Anknüpfung stellt der Spitzenreiter »Adieu les cons« dar. Im Oktober 2020 war Albert Dupontels Komödie rasant gestartet, mit über 7000000 Zuschauern in neun Tagen. Dann kam der fast siebenmonatige Lockdown. Nun gewann sie noch eine halbe Million hinzu; die sieben Césars, die sie zwischenzeitlich gewann, werden nicht geschadet haben. Das französische Publikum beweist Geduld. Auch zwei weitere Filme, die seit dem Herbst liegen geblieben waren, Maiwenns Familienmelo »ADN« und »Der Rausch« konnten die verlorene Zeit aufholen. »Demon Slayer«, ein Trickfilm für Erwachsene, und »Tom & Jerry“« einer für die ganze Familie, waren die zugkräftigsten Neustarts. Der Regieexzentriker Quentin Dupieux konnte mit »Mandibules« die erfolgreichste Startwoche seiner kuriosen Karriere feiern. Aber aussagekräftiger werden die nächsten zwei, drei Wochen sein, wo unter anderem die neuen Filme von Lucas Belvaux, Benoit Jacquot und Céline Sciamma starten. Ab dem 9. Juni beginnt die Ausgangssperre erst um 23 Uhr und die Auslastung soll auf 65% erhöht werden. Sofern die Inzidenzwerte es zulassen, werden Ende des Monats sämtliche Beschränkungen aufgehoben. Nach dieser Schonfrist laufen die ersten Hollywood-Blockbuster an, »A Quiet Place 2«, »Black Widow« und »Fast & Furios 9«, denen man in Frankreich traditionell das Sommergeschäft überlässt.
Frankreich befindet sich in einer Ausnahmesituation, weil sich dort seit dem letzten Jahr 450 Filme stauen. Kulturministerin Roselyne Bachelot, die ebenso instinktlos agiert wie ihre letzten VorgängerInnen, bezeichnete das als ein Luxusproblem. (Die mokante Floskel "Mit vollem Mund weinen" kannte ich noch nicht, vielen Dank dafür.) Schon vor Corona waren bis zu 20 Filmstarts pro Woche keine Seltenheit. Am 19. Mai waren es sage und schreibe 45, darunter 36 Filme, die nach der Unterbrechung des Lockdowns ein zweites Leben erhalten. Aber selbst der größte Filmmarkt Europas mit seinen 5900 Leinwänden kann einer solchen Menge kurz- und mittelfristig nicht Herr werden. Die Verdrängungskämpfe werden unerbittlicher. Die Ministerin meint, der Markt würde sich schon selbst regulieren. Die Branche merkt, dass man eine vernünftige Kulturpolitik nicht mit der Regierung Macron, aber eben auch nicht gegen sie machen kann. Es muss wie Hohn geklungen haben, als Premierminister Jean Castex am 19. Mai einen Fototermin in einem Pariser Kino anberaumte, um sich dafür zu loben, dass er die Filmtheater in der Krise unterstützt hätte.
Die Frage, wie sich diese Flut kanalisieren lässt, beschäftigt Produzenten, Verleiher und Kinobesitzer seit Monaten. Eindämmen will man sie nicht, den Plattformen mag niemand von ihnen das Bett bereiten. Der Kinostart soll im Hexagon der Goldstandard bleiben. Am 19. April beraumten die unabhängigen Verleiher eine Konferenz ein, um einen Fahrplan zu erarbeiten. Die großen Konzerne (Pathé, Gaumont, UGC und MK2) schlugen die Einladung aus. Von den Hollywoodmajors machte sich erst gar keiner die Mühe, den Computer einzuschalten. Das Projekt eines für alle Beteiligten gedeihlichen Kalenders schien damit gescheitert. Wie der Kuchen fortan aufgeteilt wird, will die heimische Branche dennoch nicht dem Markt allein überlassen. Schließlich ist es immer noch eine protektionistische Filmnation. Das Filmzentrum CNC hat seitdem den Posten eines médiateur du cinéma eingerichtet, eines Vermittlers, der dafür Sorge tragen soll, dass aus dem Überfluss am Ende wieder das wird, worauf Frankreich stolz ist: die Vielfalt seines Kinoangebots.
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