Ein weiteres Problem
Ganz mag man die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass die Pandemie die Verhältnisse auch einmal in einem positiven Sinne zurechtrückt. So ließ Anfang des Monats die Nachricht aufhorchen, der Anteil an Hollywoodfilmen, bei denen Frauen Regie führten, sei 2020 auf ein Rekordhoch gestiegen.
Die Universität von San Diego veröffentlichte am 4. Januar ihren alljährlichen "Celluloid Ceiling"-Report, der Daten aus den 100 an der Kinokasse erfolgreichsten Filme erhebt. Grund zu überschwänglicher Begeisterung liefert sein Ergebnis nicht, denn die Rekordmarke liegt bei gerade einmal 16 %. Das sind vier Prozent mehr als im Vorjahr und immerhin viermal so viel wie 2018. Die Entwicklung scheint also nicht in die falsche Richtung zu gehen. Joan Micklin Silver, die wenige Tage vor der Meldung im Alter von 85 Jahren starb, hätte sie wohl zuerst mit Genugtuung und, da sie meist genau hinschaute, dann mit gemischten Gefühlen gelesen. In ihren Filmen verstand sie sich auf Nuancen der Tragikomik.
In den 1970er Jahren gehörte Silver, nach Barbara Loden (»Wanda«) und neben Claudia Weill (»Girlfriends«) und Joan Tewksbury (»Old Boyfriends«), zur Vorhut weiblicher Regisseurinnen im US-Filmgeschäft. Womit vorerst nicht Hollywood gemeint ist, weil ihre Filme vornehmlich an der Ostküste entstanden und unabhängig finanziert wurden. Ihre Generation stieß auf heftigen Gegenwind. Silver berichtete ein Jahrzehnt später bei einer Diskussion im "American Film Institute" davon. Als sie ihren ersten Langfilm »Hester Street« (1975) vorbereitete, nahm sie Kontakt mit einem Studiomanager auf, der sie mit dem für heutige Ohren unglaublichen Satz "Films are so difficult to make and distribute – a woman director is one more problem we don't need." abfertigte.
Ihr Debüt lief, obwohl in Schwarzweiß und größtenteils auf Jiddisch gedreht, ziemlich gut. »Hester Street« erregte große Aufmerksamkeit in Cannes, ihre Hauptdarstellerin Carole Kane wurde für einen Oscar nominiert. Auch Silvers folgende Filme waren in der Kunstfilm-Nische kommerziell durchaus erfolgreich und »Crossing Delancey« (Sarah und Sam) 1988 sogar ein kleiner Hit. Sie fing an, als amerikanische Independents noch nicht quirky sein mussten. Es genügte, wenn sie Charakternähe besaßen und in Zwischentönen erzählt wurden. Mit ihren Filmen verbinden sich für mich vor allem Fernseherinnerungen. (Ich glaube, »Crossing Delancey« war der erste, der bei uns regulär startete.) Die Filmredaktion der ARD nahm rasch Notiz von »Hester Street«; »Between the Lines« (Zwischen den Zeilen, 1977) sowie »Chilly Scenes of Winter/ Head over heels« (Hals über Kopf, 1979) sah ich danach im ZDF oder im Dritten. Damals war das öffentlich-rechtliche Fernsehen noch wachsam und fand für so etwas sogar Sendeplätze vor Mitternacht.
»Zwischen den Zeilen« ist einer der großen Ensemblefilme der 70er und kreist um die Redaktion einer alternativen Wochenzeitung, einer Art "Village Voice" in Boston. Nebenbei auch ein wunderbarer Journalistenfilm, vielschichtig, entzaubernd und doch ermutigend. Ihre Filme waren eher episodisch erzählt, aber verliefen sich nicht, weil sie atmosphärisch robust waren: vor allem, aber nicht nur, wenn sie in den jüdischen Milieus von New York spielten. Dank Silver entdeckte ich einige SchauspielerInnen, die später nicht immer die Karrieren machten, die ihr Talent zugelassen hätte: Lindsay Crouse, Jeff Golfblum, Marilu Henner, Marybeth Hurt und vor allem John Heard, den ich in »Hals über Kopf« dann doch sympathischer fand, als es der Regisseurin wohl recht sein konnte. Es war ebenso wunderbar, Gloria Grahame in »Hals über Kopf« wiederzusehen, nach einer langen, langen Karrierepause. Silver zeichnete ihre Figuren mit einer Offenheit, die eine Vielfalt der Blickwinkel gewähren ließ. Die Charaktere und ihre Beziehungen konnten sich entwickeln. Den Bechdel-Test würden die meisten ihrer Filme bestehen, denn es ging darin um Frauen, denen ihre Arbeit viel bedeutete. Es waren dynamische Erzählungen der Selbstbestimmung.
Ich glaube, sie sind wenig veraltet. Wie sehr sie der Zeit standhalten, zeigt sich auch darin, dass Silver in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, im letzten Herbst erst auf dem Festival Lumière in Lyon, wo ihr eine kleine Retrospektive gewidmet wurde; vor allem aber in New York kamen sie wieder heraus und das dort beheimatete „Film Comment“ bemühte sich beharrlich um ihre Rehabilitation. Einige Artikel sind online abrufbar, insbesondere den Essay von Shonni Enelow empfehle ich, der in einer großartigen Nummer erschienen ist, die sich ausführlich der Arbeit von Regisseurinnen wie Agnès Varda, Lucretia Martel und Dee Rees widmet (https://www.filmcomment.com/article/stronger-together/). Enelow entwirft die Konturen eines anderen Kinos, das in den 70ern möglich schien (jenseits des New Hollywood, auf das ich diese Epoche in meinem vorangegangenen Eintrag reduziert habe). Eine der Entdeckungen, die Silver beim Filmemachen sammelte war, dass Zuhören oft ertragreicher war. Sie zog es vor, bei Regieanweisungen nicht auf das Ergebnis zu dringen, sondern Gedankenprozesse zu ermutigen.
Später, nach dem Misserfolg von »Loverboy«, arbeitete sie meist fürs Fernsehen (ihre Adaption von Fitzgeralds „Bernice bobs her hair“ würde ich gern einmal sehen, sie soll vorzüglich sein) und zog sich 2003 zurück. Ihre Tochter Marisa ist Schriftstellerin und verfasst Drehbücher. Aber auch die nächste Generation stößt auf Gegenwind. Ein weiteres Ergebnis der Studie aus San Diego lautet, dass bei 70 % der untersuchten Filme im letzten Jahr keine der fünf federführenden kreativen Positionen (also Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera, Schnitt) mit Frauen besetzt war.
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