Kritik zu Freistaat Mittelpunkt
Die Geschichte eines Sonderlings: Kai Ehlers versucht eine dokumentarische Annäherung an Ernst Otto Karl Grassmé, dessen Leben von einer verhängnisvollen Kontinuität von Naziherrschaft zur Bundesrepublik zeugt
Kai Ehlers Dokumentarfilm »Freistaat Mittelpunkt« ist in jeder Hinsicht ein ungewöhnliches Projekt, sowohl im Thema als auch in seiner Form. Im Zentrum steht ein Sonderling, einer, der zuerst von der Gesellschaft abgesondert wurde und der sich dann selbst von ihr abgesondert hat. Regisseur Ehlers nun widmet ihm einen Film, der diesem Menschen auf sehr besondere Art und Weise gerecht zu werden versucht.
Ernst Otto Karl Grassmé war ein Opfer des Nationalsozialismus. Mit der Diagnose schizophren wurde er interniert und dann zwangssterilisiert. Er hat überlebt, aber eine Wiedergutmachung war für jemanden wie ihn in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit nicht vorgesehen. Im Gegenteil, er wurde weiter ausgegrenzt und von Behörden drangsaliert und missachtet. Ehlers erzählt diese Geschichte jedoch nicht als Opferfall, sondern er versucht, den Mann selbst vorzustellen, ihm eine Stimme zu verleihen und dem Zuschauer einen Eindruck seines Charakters zu geben – und das über 25 Jahre nach dessen Tod.
Sehr konsequent und intuitiv setzt Ehlers dazu eine Bild-Ton-Schere ein: Zu langen, oft in einer Einstellung gedrehten Aufnahmen eines scheinbar idyllischen Landlebens heute, von Waldwegen und flachen Äckern, lässt er aus dem Off Stellen aus Briefen von Grassmé vorlesen, die dieser der Tochter eines Nachbarn geschrieben hat. Der Tonfall der Briefe ist stets warmherzig, zugewandt, trotzdem wird nicht immer klar, worum es geht. Mit der Zeit jedoch lernt der Zuschauer die Dinge, von denen Grassmé schreibt, zuzuordnen und daraus das schwere Schicksal des von Euthanasie und Zwangssterilisation Betroffenen in Fragmenten zusammenzusetzen. Ohne je im eigentlichen Sinn zu illustrieren, evoziert Ehlers ein stimmungsvolles, geradezu sinnliches Porträt eines Mannes, der später als Eremit im Moor lebte, aber selbst dort sich immer wieder Einmischungen von Ämtern gefallen lassen musste.
Der Film nimmt sich Zeit für sein Porträt. Die assoziative Bildmontage, die wiederkehrend Szenen bäuerlichen Arbeitens oder auch einfach nur Natur zeigt, erweist sich nach und nach als effektvoll durchkomponierte Montage, die den Zuschauer emotional und kognitiv herausfordert und zu Überlegungen darüber anregt, was ein selbstbestimmtes Leben ist und wie fehlgeleitet das »Ordnungsempfinden« manchmal sein kann, gerade wenn es um den Umgang mit jemandem geht, der ganz anders fühlt und denkt. Ganz nebenbei erzählt »Freistaat Mittelpunkt« auch von der verhängnisvollen Kontinuität von Naziherrschaft zur Nachkriegsbundesrepublik in der behördlichen Behandlung von psychisch kranken Menschen.
Ehlers in der Form abstrakter, experimenteller Film berührt besonders, weil es ihm gelingt, denjenigen, über den stets geurteilt wurde, hier selbst zu Wort kommen zu lassen, in all seiner Liebenswürdigkeit, seiner Schrägheit, seiner Harmlosigkeit und seiner Verzweiflung. Es ist ein schwieriger Film, der Geduld erfordert, sich aber unbedingt lohnt.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns