Streaming-Tipp: »Ratched«
»Ratched« (Serie, 2020). © Saeed Adyani/Netflix
Als das American Film Institute 2003 seine Liste der größten Bösewichter der Filmgeschichte veröffentlichte, landete Mildred Ratched auf Platz 5, nur Hannibal Lecter, Norman Bates, Darth Vader und die Hexe aus »The Wizard of Oz« galten als noch fieser als die perfide Krankenschwester aus Milos Formans »Einer flog über das Kuckucksnest« von 1975. Trotz der schaurigschönen, oscarprämierten Darstellung von Louise Fletcher bleibt sie beim Wiedersehen doch erstaunlich eindimensional böse, auch wenn sie mehr Rädchen im System war als alleinhandelnde Psychopathin. Wer sich wirklich hinter diesem weißen Kittel, dem eisigen Lächeln und dieser aus der Zeit gefallenen Vierzigerjahrefrisur versteckt, bleibt weitgehend unklar.
45 Jahre nach Formans Film und 58 Jahre nach dem Erscheinen der Romanvorlage von Ken Kesey erkundet Serienguru Ryan Murphy nun die Vorgeschichte, das Wie und Warum der Mildred Ratched. Er setzt an im Jahr 1947, rund zwei Jahrzehnte vor der »Kuckucksnest«-Handlung, mit dem brutalen Rachemord an einer Gruppe katholischer Priester. Der junge Täter (Finn Wittrock) wird in eine psychiatrische Anstalt im Norden Kaliforniens eingeliefert, dessen Leiter Dr. Richard Hanover (Jon Jon Briones) seine Prozessfähigkeit prüfen soll. In eben jener Institution taucht auch Mildred Ratched (Sarah Paulson) auf, um sich als Krankenschwester zu bewerben, ohne Anmeldung oder ausgeschriebene Stelle. Mit manipulativen Tricks und Taktik verschafft sie sich einen Posten, gegen die Vorbehalte Hanovers und den frostigen Widerstand von Oberschwester Betsy Bucket (Judy Davis), und macht sich schnell scheinbar unersetzlich. Schon bald deuten sich Ratcheds ganz eigene, grausame Vorstellungen von Güte und Patientenwohl an. Doch hinter ihrem Denken und Tun steckt ein Schmerz, ein Schatten der Vergangenheit, der sie zur Getriebenen macht.
Man muss das Überhöhte und den Camp mögen, den Murphy zelebriert, um »Ratched« genießen zu können, doch die Stilisierung ist selten Selbstzweck, sondern betont die Figurenzeichnung, von den zwanghaft akkuraten Kostümen Ratcheds bis zu der von Sharon Stone als kapriziöse Diva gespielten Millionärin mit Kapuzineräffchen als Hausgefährten. Das Artifizielle verstellt dabei nicht das Gefühlsleben der Figuren und ihre Traumata, was nicht zuletzt an den großartigen Darstellerinnen liegt. Paulsons Ratched ist eine komplexe und komplizierte Frau, eine höchst ambivalente Antiheldin, der in acht Folgen viel Raum zur Entfaltung gegeben wird. Zwischen ihr und der von Cynthia Nixon gespielten Gwendolyn Briggs entwickelt sich eine zarte, mäandernde Beziehung, und es ist nicht ganz unrelevant, dass dieses Paar von zwei offen lesbischen Stars verkörpert wird. Murphy legt in seinen Produktionen großen Wert auf Diversität und Repräsentation, so auch in der von ihm mitverantworteten Neuverfilmung des Broadway-Dramas »Boys in the Band«, in der auch die gesamte schwule Freundesclique von queeren Darstellern verkörpert wird.
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