Lateinamerika: Rauschhaft schöne Filme

»Der große Aufbruch«
»Was geschah mit Bus 670?« (2020). © MFA+ Filmdistribution

»Was geschah mit Bus 670?« (2020). © MFA+ Filmdistribution

Im lateinamerikanischen Kino findet ein Generations­wechsel statt: überall Aufbruch, Newcomer, spannende Debüts. Dabei verbindet sich Mut zum Experiment mit einem Sinn für Geschichte

Es war einmal in Lateinamerika . . . Lange Zeit gestaltete es sich schwierig, eine zufriedenstellende Anzahl an zeitgenössischen lateinamerikanischen Produktionen in europäischen Filmfestivals zu programmieren – weil häufig die Erwartungshaltungen höher und die Kriterien anspruchsvoller waren als die Qualität der Filme. Selbstverständlich gab es seit Jahrzehnten immer wieder besondere Werke aus diesem Territorium, so zum Beispiel von Alejandro González Iñárritu, Alfonso Cuarón, Carlos Reygadas und Pablo Larraín. Doch eine dauerhaft dominante Abbildung im erweiterten Festivalbetrieb blieb aus, insbesondere als sich das ost- und südostasiatische Kino in den Nullerjahren dieses Millenniums ins internationale Rampenlicht spielte und eine Goldgräberstimmung auf dem Arthouse-Filmmarkt begründete. Das lateinamerikanische Filmschaffen galt zu diesen Zeiten nicht als nachhaltig tragende Säule eines internationalen Festivalprogramms. Jedoch: alles ändert sich. So auch der europäische Filmfestivalauftritt Lateinamerikas. Fünf von zehn Beträgen der Rotterdamer Tiger-Competition 2020 stammen aus dieser Hemisphäre. Im Forum der Berlinale bestand ein Viertel des Programms aus iberoamerikanischen Filmen. Dies sind beispielhafte Indikatoren für die derzeit stattfindende Verschiebung der Produktionsverhältnisse. Meine Filmsichtungen belegen diese Entwicklung in aller Deutlichkeit. 

Aus der lateinamerikanischen Filmproduktionslandschaft jeglichen Genres sind im vergangenen Jahr überdurchschnittlich viele und ebenso überragende Werke hervorgegangen. Gegenwärtig befinden sich die Kreativkräfte des Kontinents in bester Form. Ein spezieller Beleg ist die außerordentliche Vielzahl an Debüts, die gleichermaßen reif wie radikal daherkommen, zudem variantenreich und heterogen erscheinen. Kuba, Mexiko, Guatemala, Costa Rica, Kolumbien, Venezuela, Chile, Peru, Brasilien oder Argentinien – überall haben hochkarätige Projekte ihren Weg auf die Leinwände gefunden. Identifizierbar ist eine Tendenz zu magischen oder mystischen Überhöhungen bei der visuellen Ausgestaltung. Gleichzeitig bleiben die Handlungen jedoch klar im Realismus angesiedelt. Insgesamt lässt sich noch kein eindeutiger formalästhetischer Trend erkennen, auch keine Gruppenbildung, die eine äußerlich aufgestülpte Etikettierung zuließe. Stattdessen sind die Erstlingswerke derzeit ­Einzelstücke – zahlreich und überzeugend. Gemeinsamkeiten liegen hingegen in Thematiken und Motiven der filmischen Vorgänge und Handlungen: Familienangehörige, die spurlos verschwinden – Desaparecidos –, die Auseinandersetzung mit indigenen Bevölkerungsgruppen und die Konfrontation mit der bluttriefenden Geschichte als gespenstischem Vermächtnis viel zu vieler Diktaturen – das sind die Eckpfeiler des lateinamerikanischen Films im Hier und Jetzt.

Venezuela

Gleich zwei außerordentlich starke Produktionen entstanden in Venezuela. Das Örtchen Congo Mirador ist angesiedelt am Maracaibo-See, einem Binnenmeer im Nordwesten des Landes. Dank gewaltiger Rohölreserven versprach die Gegend einst eine aussichtsreiche Zukunft. Heute ist sie gebeutelt durch massive Umweltverschmutzung. Ein absinkender Wasserspiegel führt zudem zu Sedimentationen, Rattenbefall – und zunehmender Frustration unter der Bevölkerung. Selbst das Kreuz auf dem Kirchturm hängt inzwischen schief. In ihrer Langzeitdokumentation »Once Upon a Time in Venezuela« (Es war einmal in Venezuela) porträtiert Regisseurin Anabel Rodríguez Ríos ein Dorfleben am Wasser. Aus diesem Mikrokosmos wandern immer mehr Bewohner ab. Ihre pittoresken Häuser, auf Holzstelzen am Ufer verankert, nehmen sie im Schlepptau mit. Selbst ein urbanes Erneuerungsprogramm bringt keinen durchschlagenden Erfolg. Eine trotzt dem Exodus: Tamara ist als ebenso schillernde wie umtriebige Händlerin eine Profiteurin des Systems – und glühende Verehrerin des verstorbenen Hugo Chávez, gefühlt der ewige Staatschef, dessen Devotionalien in ihrem Haus omnipräsent sind. Vor allem eine Bewohnerin ist Tamara ein Dorn im Auge: Natalie, die Dorflehrerin – die sich unermüdlich beschwert. Denn in ihrer Schule mangelt es an allem. Zugeteilte Gelder sind im Nirgendwo versickert, die Finanzierung bleibt an ihr selbst hängen. So bilden Wut und Manipulation die gegensätzlichen Antriebsfedern der Protagonistinnen, die stellvertretend für die gegensätzlichen Stimmungen im Land stehen. Tamara fungiert zudem als eloquente Strippenzieherin, hat sie sich doch über Jahre ein Netzwerk in die hohe Politik aufgebaut. Während im Land Wahlen anstehen, kann sie sogar Mobiltelefone verteilen – als Gegenleistung für ein Bekenntnis zu einem politischen System, das Einzelpersonen Vorteile verschafft und gesellschaftlichen Zusammenhalt längst vernichtet hat. Ríos' Kamera wird über die Jahre selbst zur Dorfbewohnerin und liefert uns rare Bilder aus einem Land, das von auswärts ansonsten kaum betretbar ist. Stets auf Augenhöhe mit ihren Protagonist*innen, gelingt Ríos überaus Wertvolles. Denn effektiver als ein staatliches Ölunternehmen fördert sie einen viel wichtigeren Rohstoff zutage: Menschlichkeit.

Regisseur Jorge Thielen Armand hatte sein Heimatland bereits vor 15 Jahren verlassen. In seinem dritten abendfüllenden Spielfilm, »La Fortaleza«, besetzt er seinen Vater, mit dem er regelmäßig arbeitet, als Hauptdarsteller. Roque, jenseits der 50 und Alkoholiker, wird von seinen betagten Eltern aus dem Haus geworfen, nachdem er betrunken das Auto der Mutter zu Schrott gefahren hat. Als unsteter Lebemann macht er sich in den abgelegenen Süden Venezuelas auf – mit der fixen Idee, eine verfallene Hütte im Dschungel zu renovieren, die er einst gebaut hatte. Alte Freunde vor Ort sind mittlerweile im Minengewerbe gelandet. Angetrieben von den Verheißungen eines Goldrauschs, schließt Roque sich ihnen an. Er betritt eine ultimative Männerwelt, in der zunehmend das Recht des Stärkeren gilt – welches unausweichlich seinen Tribut fordern wird. Hauptdarsteller Thielen Senior kämpft auch im wahren Leben gegen die Dämonen des Alkohols. Gleichermaßen eindringlich wie entfesselt spielt er sein Alter Ego Roque. Mittels fieberhaft montierter Sequenzen mit hohem Sogpotenzial und durch einen Fokus auf der ausdrucksstarken Mimik seines Protagonisten lotet Thielen als Filmemacher wie als Sohn die Seele eines verzweifelten Mannes ohne inneren Kompass aus. Dabei positioniert sich »La Fortaleza« selbst als Nachkomme – von Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now«: Stets operiert die Handlung an den Schnittstellen zwischen dem ausufernden Wahnsinn seiner Hauptfigur und der brutalen Realität eines Milieus, das vor nichts haltmacht – gerahmt von politisch-gesellschaftlichen Zustandsbeschreibungen eines kaputten Landes.

Kolumbien

Auch die kolumbianische Filmlandschaft präsentiert sich in vitalem Zustand. »Los Conductos«, unter der Regie von ­Camilo Restrepo auf 16-mm-Material gedreht, zählt zu ihren furiosesten Repräsentanten. Als motivische und narrative Inspirationsquelle dient die »Elegie auf die Rache« des Schriftstellers Gonzalo Arango, Vertreter des »Nadaismus«, einer Gegenkulturbewegung, die in den späten 50er Jahren aufkam. Das Gedicht wirft die Frage auf, wann Kolumbien aufhören wird, seine Söhne zu töten. In der Filmhandlung befindet sich der Protagonist Pinky auf der Flucht. Sich aus den Fängen einer religiösen Sekte befreiend, verfolgt von Erinnerungen und Rachegelüsten, stellt er alles in seinem Umfeld infrage. »Los Conductos« entzieht sich gängigen dramaturgischen Konventionen. Camilo Restrepos Langfilmdebüt ist ein kostbares Einzelstück: kühn, kraftvoll, radikal und kompromisslos. Ein Werk, dem das Kunststück gelingt, trotz seines präzisen formalen Schliffs eine Rohheit zu bewahren, ein äußerst seltenes Beispiel für einen Film, der tatsächlich neue kinematografische Perspektiven ­eröffnet – weit über Lateinamerika hinaus. 

In seinem Spielfilmdebüt »Valley of Souls« begibt sich der Regisseur Nicolás Rincón Gille ins Jahr 2002 – mitten in den Bürgerkrieg, der die jüngere kolumbianische Geschichte dominiert hat. Rechtsgerichtete paramilitärische Gruppen, berüchtigt für Terrorakte gegen die eigene Bevölkerung, zählen zu den Hauptakteuren für den bewaffneten Konflikt im Land. Als der Familienvater und Fischer José von der Arbeit in sein Dorf zurückkehrt, sind nach einem politisch motivierten Überfall seine beiden Söhne verschwunden. Von Trauer und Leid überwältigt, begibt José sich auf die lebensgefährliche Suche nach ihnen im Fluss Magdalena. Es ist unter Todesstrafe verboten, Leichen aus dem Gewässer zu bergen. Doch José will den irrlichternden Seelen seiner Söhne Ruhe verschaffen, indem er sie beerdigt. Seine Reise wird zum Roadmovie auf dem Fluss, der seine Familie sonst ernährt und in dem nun immer mehr vorbeitreibende Tote Zeugnis exzessiver Grausamkeit geben. Durchgängig vermeidet der Film die Darstellung unmittelbarer Gewalt; er konzentriert sich auf deren Auswirkungen, vor allem indem er die gepeinigte Seele seiner Hauptfigur vermisst, verkörpert von José Arley de Jesús Carvallido Lobo. Dessen aufrichtiges und unaufdringliches Schauspiel trägt wesentlich zur überragenden Qualität des Films bei. Beiläufig, doch unerbittlich fördert die Handlung eine beklemmende Atmosphäre in einem Land zutage, in dem die überwältigende Schönheit der Landschaft und die omnipräsente Angst der Menschen untrennbar und trügerisch verschmolzen sind – einem ehernen Naturgesetz gleich. 

»Valley of Souls« vereinigt die bedeutendsten Themen des gegenwärtigen lateinamerikanischen Films. Es sind die Desaparecidos – die Verschollenen, die Verschwundenen –, welche die Sujets und Handlungen in dieser Hemisphäre prägen: Menschen, die von herrschenden oder parastaatlichen Kräften heimlich verhaftet, entführt, gefoltert, ermordet werden. Ein grausames Phänomen, das in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten bis heute systematisch ist und das formalästhetisch sehr unterschiedlich ausgeprägte Werke verbindet: Wie ein blutiger Handlungsfaden zieht sich die Thematik durch das zeitgenössische Filmschaffen. Auch aus anderem Grund eignet sich Rincón Gilles Film als Musterbeispiel für die Betrachtung aktueller Produktionen. Denn innerhalb des historischen Settings verhandelt er ein weiteres Motiv, das auffällig vielen zeitgenössischen Werken innewohnt: Memoria – die Erinnerung, die auf den Prüfstand gerät und die derzeitigen Vertreter*innen des lateinamerikanischen Films zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte drängt. 

Auch in Raúl Soto Rodríguez Dokumentarfilm »The Second Burial of Alejandrino« sind die Vorgänge innerhalb des indigenen Volkes der Emberá durch Erinnerung angetrieben. Denn seit der Schamane Alejandrino vor ­einigen Jahren starb, erscheint er seiner Witwe in ihren Träumen – Ausdruck seines Wunsches, ein zweites Mal an anderem Ort beerdigt zu werden. Soto Rodríguez begleitet dieses kulturtypologisch bedeutsame Unterfangen und fängt den Prozess der Exhumierung und Umbettung auf Augenhöhe seiner Protagonist*innen ein. Ihm gelingt ein intensives ethnografisches Werk auf der Grundlage seiner aufmerksamen Beobachtung.

Peru

Die Themen Desaparecidos und Memoria bilden ebenfalls die narrative Grundlage im furiosen Debüt der peruanischen Regisseurin Melina León, »Song Without a Name«. Historisch angesiedelt in den 80er Jahren und basierend auf wahren ­Begebenheiten, folgt die Handlung einer jungen Frau, die in einer vermeintlichen Geburtsklinik ihr Baby zur Welt bringt. Kurz darauf sind sowohl das provisorische Hospital als auch ihr Baby spurlos verschwunden. Überdies steht der Film beispielhaft für eine dritte thematische Linie, welche die gegenwärtigen Filmmacher*innen Lateinamerikas antreibt und sich vielfach wiederfinden lässt: die Annäherung an und Auseinandersetzung mit indigenen Bevölkerungsgruppen. 

Brasilien

Der Arzt Noel Nutels widmete sein gesamtes Arbeitsleben der indigenen Bevölkerung in verschiedenen Teilen Brasiliens. Von den 1940er bis in die 1970er Jahre leitete er zahlreiche medizinische Expeditionen – insbesondere zu den Xingu – und hielt sie mit 16-mm-Kameras fest. Die einzig erhaltene Aufnahme seiner Stimme stammt von einer Rede im brasilianischen Parlament aus dem Jahr 1968, in der er sich deutlich zu den Lebensumständen der indigenen Bevölkerung äußerte. Mit Mut und Überzeugung kritisierte er die Politik, die konform mit den Vorstellungen einer Diktatur einen regelrechten Völkermord ausgelöst hatte. Noels Vortrag ist ein Zeugnis von Zivilcourage und Widerstand, eine beherzte Abrechnung mit den politischen Vorgaben seiner Zeit. Aus beiden Quellen – dem originalen Filmmaterial sowie der Stimmaufzeichnung – gestaltet Regisseur Tiago Carvalho ein ethnografisches Dokument von hoher gesellschaftlicher Relevanz. »The Pink Indian Against the Invisible Beast: The Battle of Noel Nutels« ist eine filmhistorische Kostbarkeit mit den überzeugend arrangierten 16-mm-Aufnahmen, Laufstreifen, Kamerageräuschen – Eigenschaften von Filmmaterialien, die beinahe in Vergessenheit geraten sind. Fassungslos macht hingegen die Erkenntnis, dass seit den 40er Jahren keine wesentliche Haltungsänderung eingetreten ist. Die systematische Verdrängung indigener Bevölkerungen findet weiterhin statt – selbst ihre Vernichtung wird auch unter der derzeitigen Regierung forciert oder in Kauf genommen. Eindrucksvoll macht Carvalho auf diese Missstände aufmerksam. 

Der Raubbau an der Natur Amazoniens durch die Konstruktion des Tucuruí-Stausees im Jahr 1984 ist Fernando Segtowicks Ausgangspunkt für »Amazon Mirror«, eine Recherche über die Ausbeutung dieser Region in Vergangenheit und Gegenwart. Die Energieerzeugung diente der Aluminium-Industrie. Aus Zeitmangel blieben Wälder seinerzeit ungerodet, alternativ entlaubte man sie mit dem Umweltgift Agent Orange. Heute ragen Baumstümpfe als bizarre Gerippe aus dem Wasser – natürliche Seismografen einer Zwischenwelt aus menschlicher Megalomanie und Apokalypse. Zudem ignorierten politisch Verantwortliche Ansprüche und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung, die bis heute auf die Erfüllung damaliger Zusagen wartet. In kraftvollem, bisweilen gespenstischem Schwarz-Weiß tastet Segtowick Schauplätze und Protagonist*innen behutsam ab. Dabei macht er von Beginn an seine Anwesenheit transparent und integriert rhythmisch versetzt filmische Situationen während der offenbar unglücklich verlaufenen Dreharbeiten. So wird sein Werk gleichsam zum eigenen Making-of, das Momente des Scheiterns offenlegt – reflexive Augenblicke, die dem Film Authentizität geben, ihn künstlerisch und intellektuell anreichern. Amazon Mirror zeugt von formalem Mut. Zugleich erstaunen die Ruhe und die Besonnenheit, mit der Segtowick in seinem Debüt operiert. So enstant ein visuell eindrucksvolles Mahnmal der Erinnerung ohne edukativen Zeigefinger.

Mexiko 

Auch »Identifying Features« von Fernanda Valadez ist ein außerordentliches Erstlingswerk. Als Magdalenas jugendlicher Sohn Jesús auf dem Weg zur mexikanisch-US-amerikanischen Grenze verschwindet, macht sie sich auf die Suche nach ihm. Angst und Sorge sind ihre Begleiter – anfangs auch ein Quäntchen Hoffnung. Magdalena ist nicht die Einzige, die auf den Spuren verschollener Familienangehöriger wandelt. Inzwischen ist ein ganzer Verwaltungsapparat ausschließlich mit der Identifizierung von Toten und der Zuordnung von Leichenteilen beschäftigt – aufgefunden in zahllosen Massengräbern. Dennoch sind nützliche Informationen Mangelware; es herrscht ein Klima der Geheimnistuerei. Auf ihrer Odyssee durch trostlose Orte und Landschaften des heutigen Mexikos begegnet Magdalena schließlich Miguel, einem jungen Mann, der kürzlich aus den USA abgeschoben wurde und sich auf dem Weg in sein mexikanisches Heimatdorf befindet, um nach Jahren bei seiner Mutter Unterschlupf zu finden: ein Wunsch, der jäh zerplatzt, denn inzwischen haben auch dort militante Gruppen das Regiment übernommen. Der Film zeichnet die unzähligen Desaparecidos samt ihren Hinterbliebenen als blutende Wunde Mexikos. In einem Land, das in einem Abgrund aus gewalttätigen Verbrechen und willkürlicher Grausamkeit versinkt, kann es auch für Valadez' Protagonisten keine Erlösung geben. Viel mehr sind sie einer unaufhaltsamen Steigerung von Leid und Schmerz ausgesetzt. Die Präzision, mit der Valadez sowohl die Handlung entwickelt als auch ihre Szenen gestaltet, ist beeindruckend. »Identifying Features« wirkt formal kohärent und variantenreich zugleich und überzeugt durch brillante Darsteller, exzellente Schauspielführung und gewaltige Bilder von biblischem Ausmaß.

Im östlichen mexikanischen Hochland haben Drogenkartelle und ein korrupter Militärapparat die Herrschaft übernommen – eine bedrohliche Melange rivalisierender Kräfte. Im Kreuzfeuer dieser Gruppen ist die Handlung von »Sanctorum« angesiedelt; hier leben die Mixe, eine indigene Bevölkerungsgruppe, die ihren Haupterwerb aus der Landwirtschaft bezieht. Der Marihuana-Anbau, zu dem sie von einem Kartell gezwungen werden, ist ihre Existenzgrundlage. Wehrlos stehen sie Mächten gegenüber, die willkürlich einschüchtern, erpressen oder morden. Regisseur Joshua Gil entwirft eine realistische Handlung, die durch das Brauchtum der Mixe gespeist ist. Als die Mutter eines kleinen Jungen plötzlich verschwindet – eine Desaparecida –, schickt seine Großmutter das Kind in den Wald, um die Natur um deren unversehrte Rückkehr zu bitten. Auf der Grundlage von Mythen und Sitten formt Gil eine Wirklichkeit im fantastischen Rahmen mittels rauschhafter Bilder, magischer Überhöhung und exquisiter Tongestaltung. Der Regisseur, der bereits an Carlos Reygadas' »Japón« mitwirkte, beeindruckt mit einzigartigem Ausdrucksvermögen, er erschafft opulente Bild- und Tonwelten mit hohem Wiedererkennungswert – hypnotisch. »Sanctorum« zeigt die Kameraarbeit eines Meisters, nicht nur handwerklich, sondern auch in ihrer visionären Ausprägung. 

So ergibt sich aus der Bearbeitung der Geschichte ein ausgesprochen vorwärtsgewandtes junges Kino. Es war einmal in Lateinamerika? Nein. Es ist in Lateinamerika . . .

 

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