Der See, die Berge und der Speicher
Bei seinem vorangegangenen Film „Feuerwerk am helllichten Tag“, dem Berlinalesieger von 2014, hatte Diao Yi'nan noch einige Probleme mit der Zensoren. Sie bestanden darauf, dass die Hauptfigur im zweiten Akt des Drehbuchs ihren Dienst quittiert, denn es konnte nicht angehen, dass ein chinesischer Polizist als Alkoholiker dargestellt wird und sich in eine Mordverdächtige verliebt.
Bei „Der See der wilden Gänse“, der gestern bei uns anlief, stellten ihm die Behörden nun keine Hürden in den Weg, wie er im letzten Jahr in Cannes berichtete. Das spricht nicht gegen seinen neuen Film, darf aber verwundern. Immerhin zeichnet sein Neo-Noir ein düsteres, beklemmendes Bild der chinesischen Gesellschaft. Das Prä-Covid-19 Wuhan filmt er als ein Pandämonium der Ausbeutung, Käuflichkeit und des sittlichen Verfalls. Rivalisierende Gangs teilen die Stadt unter sich auf, und ihre Mitglieder sind auch auf den zweiten Blick nicht von den Gesetzeshütern zu unterscheiden, die sie bekämpfen sollen.
Als ich Diao Yi'nans Film sah, musste ich an eine bemerkenswerte Interpretation der chinesischen Zensur denken, die Olivier Assayas im letzten Winter in einem Interview formulierte. Sie sei weniger politisch motiviert, meinte der französische Regisseur, sondern orientiere sich vielmehr an den moralischen Regeln des Konfuzianismus: Der Sohn respektiert den Vater, man respektiert die Autorität des Staates, der Verbrecher wird bestraft. In der Tat, die Missetäter finden fast sämtlich ein blutiges Ende. Und Liao Fan, der in „Feuerwerk“ den gefallenen Polizisten spielte, ist nun ein Inbegriff unbeugsamer Pflichterfüllung. Allerdings steckt „Der See der wilden Gänse“ voller Ambivalenzen, an denen das Raffinement der Zensoren wohl scheiterte.
Auf die Frage nach der Zensur antwortete der Regisseur im letzten Jahr indes nur schmallippig. Er sprach lieber über die meteorologischen Aspekte seiner Filme. Fürwahr, der unerbittlich herab prasselnde Regen ist ganz wunderbar in seinem neuen Film. Den Bitte der Presse, gemeinsam mit seinem jungen Kollegen Gu Xiaogang, der seinen Erstling „Dwelling in the Fuchun Mountains“ auf dem Festival präsentierte, für Fotos zu posieren, kam er ausdrücklich nicht nach. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass er es sich mit Peking verscherzen wollte: „Der See der wilden Gänse“ sollte im Dezember auf 16000 Leinwänden starten und hoffentlich zwischen vier und fünf Millionen Eintrittskarten verkaufen. Gu Xiaogongs unabhängig produzierter (einen Teil des Budgets steuerte sein Filmprofessor bei) Film befand sich im Mai letzten Jahres noch in der Zensurschleuse. Mehrere Szenen missfielen den Behörden, darunter eine, die in einem illegalen Spielsalon abgesiedelt ist und Konfuzius' Zustimmung gewiss nicht gefunden hätte. Die Suche nach einem chinesischen Verleih blieb erfolglos; vor einer Woche hat Gu Xiaogong ihn nun im Netz herausgebracht.
2019, als das 70. Jubiläum der kommunistischen Machtergreifung gefeiert wurde, war ein politisch heikles Jahr für das chinesische Kino, voller kurzfristiger Festivalabsagen und auf unbestimmte Zeit verschobener Filmstarts (worüber ich im Oktoberheft von epd Film schrieb). Ein potenzieller Blockbuster, der auf Eis gelegt wurde, ist das Kriegsepos „The Eight Hundred“ von Guan Hu, das 80 Millionen Dollar gekostet hat und als erster chinesischer Film komplett mit IMAX-Kameras gedreht wurde, Er handelt vom heroischen Widerstand chinesischer Soldaten in Shanghai, die vier Tage lang eine Speicherhalle gegen die japanischen Invasoren verteidigten, eine Ruine, in der zahlreiche Zivilisten Zuflucht gesucht hatten. Nicht nur das Propagandabüro, auch eine inzwischen einflussreich gewordene Organisation namens „China Red Culture Research Association“ bemängelte, dass die 800 Helden keine Kommunisten gewesen seien, sondern deren Gegner im Bürgerkrieg, der Kuomintang, angehörten. 1976 wurden sie bereits in einem taiwanesischen Film, „Eight Hundred Heroes“ gefeiert, was den Zorn festlandchinesischer Behörden sicher zusätzlich befeuert haben muss.
Aber Prioritäten können sich ändern. Nachdem zwischen Januar und Juli die chinesischen Kinos geschlossen waren, ist dieser politisch unkorrekte Film nun zum Heilsbringer der Branche avanciert. Seit er, ebenfalls vor einer Woche, herausgekommen ist, hat er laut „Variety“ sage und schreibe 188 Millionen Dollar eingespielt. Das ist ein Einspielergebnis, wie man es nur aus Vor-Corona-Zeiten kennt. Die Schätzungen schwankten im Vorfeld des Kinostarts zwischen 40 und 160 Millionen; letztere hatten westliche Analysten jedoch als Propaganda eingestuft (in der Volksrepublik werden derlei Zahlen notorisch nachgebessert, wenn es opportun erscheint). Dieser Kassenerfolg ist nicht nur insofern erstaunlich, als bislang erst 90% der heimischen Kinos wieder geöffnet sind und nur jeder zweite Kinosessel besetzt werden darf. China darf sich also als Vorreiter, ja Antreiber einer raschen Erholung der Märkte präsentieren. Mindestens ebenso bemerkenswert ist, dass Guan Hu keine nennenswerten Änderungen an seinem Film vorgenommen zu haben scheint. Die zuvor inkriminierte Szene, in der die Verteidiger die republikanische (und eben nicht kommunistische) Flagge über der Ruine hissen, ist jedenfalls intakt geblieben. Ob das Publikum den 800 wohl zugejubelt hat?
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