Das Privileg der Entdeckung
Wenn ein Regisseur und eine Schauspielerin 16 Filme miteinander gedreht haben, sollte man meinen, dass zwischen ihnen ein tiefes Einverständnis herrschte. Aber Hideko Takamine wusste nichts Gutes über Mikio Naruse zu berichten. "Was für ein bösartiger alter Mann!" schimpfte sie nachträglich über ihn. Seine Zurückhaltung brachte sie zur Verzweiflung; seine Weigerung, mit den Darstellern zu sprechen, kam ihr geradezu niederträchtig vor.
Sie fand ihn einen völlig teilnahmslosen Regisseur. Er probte nicht und gab keine Regieanweisungen. Von ihm war nie zu erfahren, ob er einen Take gelungen oder schlecht fand. Einmal nahm Takamine all ihren Mut zusammen und fragte ihn, wie sie an ihre Rolle herangehen solle. "Sie ist vorbei, bevor Sie es auch nur merken", erwiderte Naruse, bevor er wieder in sein gewohntes Schweigen fiel. Heute Abend läuft auf arte der vorletzte ihrer gemeinsamen Filme, »Midareru – Sehnsucht« von 1964. Er ist ein Meisterwerk wie anderen 15, die sie zusammen für die "Toho" drehten.
Trotz seines Rufes, schwierig zu sein, wollten alle Schauspielerinnen des Studios mit ihm arbeiten. Wie es scheint, übte er eine große Anziehungskraft aus und muss bei aller Unzugänglichkeit einen beachtlichen Charme besessen haben. Offenbar fiel es ihm schwer, um etwas zu bitten. Seine gelegentlichen Wutausbrüche über unprofessionelles Verhalten auf dem Set waren indes gefürchtet. Aber die Darsteller wussten, dass sie stets im Mittelpunkt seiner Filme stehen. Er vermied alle Kamera- und Schnitteffekte, die von ihnen ablenken. Sie waren das Zentrum seiner Kompositionen, hielten nicht nur Abstand aus Entfremdung, sondern hatten eben auch Luft zum Atmen, zum Leben. Naruses Filme waren vor allem beim weiblichen Publikum sehr erfolgreich. (Über seine Frauenfiguren habe ich bereits im Eintrag "Wenn sie lächelt, kostet es ein Vermögen" vom 4. 10. 2018 geschrieben.)
Bei der "Toho" genoss er hohes Ansehen. Er stand im Ruf, das Budget niemals zu überschreiten. Beim Drehen hatte er schon genau im Kopf, was er später im Schneideraum montieren würde. Es gelang ihm, ein kreatives Umfeld zu schaffen, in dem er selbstverständlich voraussetzen konnte, dass jeder sein Handwerk beherrschte. Seine Verschlossenheit war nicht allein seinem Temperament geschuldet, sie hatte Methode. Ich vermute, er war durchaus ausgekocht. Er ließ sein Team nie das Drehbuch lesen, auch seine Storyboards hielt er vor ihm geheim. Als einmal ein Beleuchter versuchte, von oben einen Blick darauf zu erhaschen, änderte er aus Wut sofort den Drehplan. Seine Mitarbeiter sollten unvorbereitet und so gezwungen sein zu zeigen, was sie wirklich konnten. Niemand durfte auf einem Naruse-Set in Routine verfallen.
Ein Deutschland ist er noch immer ein gut gehütetes Geheimnis. Um so erfreulicher, dass arte seinen Schwerpunkt über das japanische Kino mit einem seiner Filme eröffnet. Er hat im Westen nie den Ruhm seiner Kollegen und Bewunderer Akira Kurosawa, Kenji Mizoguchi und Yasujiro Ozu erlangt. Mit diesem Dreigestirn schien das Pantheon des japanischen Kinos für lange Zeit komplett. Dass er das vierte Rad am Wagen ist, hat weniger mit der mangelnden Attraktivität seiner Filme zu tun - obwohl ihr notorischer Pessimismus, zugegeben, eine gewisse Hürde darstellt. Vielmehr ist seine späte Entdeckung der Studiopolitik geschuldet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden allein die Firmen, welche Filme sie westlichen Festivals und Verleihern anboten. Die "Toho" fand, dass Naruses Filme dafür zu verinnerlicht waren und hatte mit Kurosawa ja bereits einen Regisseur, dessen Filme sich leichter exportieren ließen.
So genießt Naruse das Privileg, von jeder Generation neu entdeckt zu werden. Kennen und lieben gelernt habe ich sein Werk, das muss Leser dieses Blogs nicht überraschen, während einer Retrospektive in Paris. Das war 2006 ein spätes Rendezvous. Im selben Jahr ging eine Auswahl von Filmen in Deutschland auf Tournee. Bis dahin gehörte er noch den Eingeweihten. Gewiss, ein, zwei Filme kannte ich schon vorher, „Treibende Wolken“ etwa lief auf einer Berlinale-Retospektive, und eine verblichene Kopie von „Die Mahlzeit“ sah ich Anfang des Jahrtausends einmal mittags in einem kleinen Kino im Quartier Latin. Im November 2006 waren im japanischen Kulturinstitut 31 seiner Filme zu sehen, von denen ich nur wenige verpasste. Ich tauchte in eine eigene, fast geschlossene Welt ein. Ich hatte einige Zeilen von Bertrand Tavernier im Kopf: "Seine Kameraeinstellungen sind bewundernswert, gleichviel ob starr oder bewegt. Mit ihnen verwurzelt dieser Regisseur der Beharrlichkeit des Alltäglichen die tausendfach wiederholten Gesten seiner Figuren in ganz schlichten Schauplätzen. Er verleiht diesen unscheinbaren Orten eine Schwere, auf ihnen liegt die Last der Vergangenheit einer ganzen Kultur. Das lässt er uns mit einer fast heiteren Gelassenheit spüren, mit einer Höflichkeit, die einem das Herz zerreißt."
Naruses Geschichten sind sozial präzis verankert. Während Ozus Charaktere vorwiegend aus der Mittelklasse stammen, widmet er seine Filme den ärmeren Gesellschaftsschichten. Seine Figuren kennen das Elend, leben oft am Rande des Existenzminimums. Unablässig geht es um Geldprobleme, unbezahlte Mieten oder Schulden. Nüchtern zeigt Naruse, wie Entbehrungen oder der Streit um eine Erbschaft zur Erosion der Verwandtschafts- und Liebesziehungen führen. Die Familie ist für seine Charaktere keine Zuflucht, er betrachtet sie mit großer Ambivalenz und ohne Sentimentalität. »Midareru« (der Titel wird zuweilen auch als "Verwirrung" übersetzt) ist ein schönes Beispiel, wie bei diesem Regisseur das Familienleben gleichermaßen von Neid und Ausbeutung, von Anhänglichkeit und Verantwortungsgefühl bestimmt wird. Auch innerhalb des Heims bewahren sich die Mütter, Töchter und Ehemänner ihre Individualität. In seinen Filmen sind die Männer und Frauen auf sich gestellt. Während Ozu die Auflösung der familiären Bindungen als Verlust beklagt, empfindet sie Naruse oft als Befreiung.
Seine Charaktere offenbaren sich allmählich in scheinbar ereignislosen Chroniken, deren Dramaturgie dem unsichtbaren Fluss des Lebens folgt. Er hatte nach neugierigen Experimenten in der Stumm- und frühen Tonfilmzeit zu einem nicht unsichtbaren, aber zurückhaltenden, transparenten Stil gefunden. Es gibt eine wunderbare Stelle dazu in der Autobiographie seines ehemaligen Assistenten Kurosawa: "Naruses Methode besteht darin, kurze Einstellungen aufeinander aufzubauen, die den Eindruck einer einzigen langen Einstellung erwecken. Der Übergang ist so fließend, dass die Nahtstellen unsichtbar werden. Dieser Fluss von kurzen Einstellungen, die auf den ersten Blick ruhig und gewöhnlich erscheint, erweist sich als tiefer Strom, dessen ruhige Oberfläche über eine heftige Unterströmung hinwegtäuscht."
Naruse versteht es meisterlich, selbst der Eintönigkeit einen berückenden filmischen Rhythmus zu verleihen. Seine Filme versenken sich tief in das häusliche Leben, in die Intimität der Schlafzimmer und Badehäuser, in die Küche als Ort, an dem die Frauen ihre Einsamkeit und ihr Leid besänftigt finden (und sie genießen das Essen). Er ist kein Regisseur der Resignation, sondern der Melancholie. Das berühmte Naruse-Grau ist das Element, in dem die Existenz seiner Figuren aufgehoben ist, aber man übersieht leicht, wie hingebungsvoll er der Grisaille ihrer Existenz Momente sachter Lebensfreude abtrotzt. Sein Kino kapituliert nicht vor dem Leid, sondern besitzt eine große Freizügigkeit. Zentrale, häufig wiederkehrende Motive sind Gassen und Brücken, Linienbusse und Züge. Bei ihm sind die Seelen in Bewegung. Seine Figuren haben Geschmack am urbanen Leben. Das Glück ist eine moderne, revolutionäre Idee in der Welt, von der er erzählt. Es zu suchen, ist manchmal schon Glück genug.
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