Montmartre 1540
„Die Erinnerung ist mein Fluss ohne Wiederkehr“, heißt es in einem der vielen Chansons, die in Claude Lelouchs neuem Film erklingen. Dieser Regisseur, der um jeden Preis die Schönheit such, kann auch in „Die schönsten Jahre eines Lebens“ nicht umhin, die Melancholie in Kauf zu nehmen.
Wenn im Kino auf die Ansicht eines Flusses geschnitten wird, fungiert er insgeheim meist als Metapher für den Fortschritt. Bei Lelouch führt, wenn man dem Liedtext glauben soll, der Strom nicht einmal mehr zurück. Der Film wiederum dreht sich im Kreis, was ein kleineres dramaturgisches Problem ist, als man annehmen müsste. Denn ganz so eindeutig geht die Verlustrechnung zum Glück nicht auf. Jean-Louis Trintignants Erinnerung folgt Strudeln, taucht mal auf und wieder ab. Seine affektives Gedächtnis ist noch sehr wach. Auch wenn er Anouk Aimée jetzt nicht mehr erkennt, erinnert er sich genau an das, was er vor einem halben Jahrhundert in „Ein Mann und eine Frau“ für sie empfand. „Man kann sein Gedächtnis verlieren“, sagt er zu ihr, „aber den Blick eines Menschen vergisst man nicht.“ Eine schöne, vom Film unentdeckte Ironie liegt darin, dass sie seinerzeit Scriptgirl war, also das Gedächtnis einer Filmproduktion. Ihre Telefonnummer von damals kennt er noch auswendig: Montmartre 1540.
Es ist ein reichlich unvernünftiges Vorhaben, nach so langer Zeit noch einmal auf seinen größten Erfolg zurückzugreifen. Da kämen doch nur noch die Überlebenden ins Kino, warnte ihn sein Hauptdarsteller. Aber mit Blick auf Lelouchs Filmographie ist diese Wiederkehr ziemlich unausweichlich. Sie ist eine Wette mit der Erinnerung des Publikums, die zwar an der Kinokasse immer seltener aufgeht, bezogen auf seine Person aber nach wie vor funktioniert: Lelouch ist, das lässt sich statistisch belegen, der unter seinen Landsleuten berühmteste Regisseur, 96 % aller Franzosen kennen seinen Namen, weit mehr als den von Truffaut, Renoir oder Luc Besson.
Er ist ein ausdauernder Charmeur, der sein Publikum wie eine anspruchsvolle Geliebte verwöhnen will mit immer neuen Preziosen. Und gleichviel, wie zahlreich es noch zum Rendezvous ins Kino kommt, seine Filme beziehen sich mit unentwegter Koketterie auf frühere. Mitunter antworten sie auch aufeinander. Das Motiv der Krankheit und Hinfälligkeit beschäftigt ihn spätestens seit „Männer und Frauen - die Gebrauchsanweisung“ (1998). Vier Jahre danach bringt er in „And now...Ladies and Gentleman“ das Schwinden der Erinnerung ins Spiel. Der Juwelendieb Jeremy Irons und die Jazzsängerin Patricia Kaas verlieren in der melodramatischen Komödie sporadisch ihr Gedächtnis. Dieses Hin und Her ist nicht viel mehr als eine dramaturgische Peripetie, ein willkommener Spannungsmoment. Am Ende steht gar eine wundersame Heilung.
In „Die schönsten Jahre eines Lebens“ meint Lelouch es ernster. Als der Film im letzten Jahr in Cannes Premiere feierte, gab er „Le monde“ ein Interview, in dem er betont, wie erlebt dieser Film sei. Für die Beziehung, die Aimée und Trintignant nun wieder aufnehmen, habe er sich von Annie Girdardot inspirieren lassen. Sie standen einander einmal sehr nahe, waren in den späteren 1960ern für zwei Jahre ein Paar, zwischen „Lebe das Leben“ und „Der Mann, der mir gefällt“. Nicht zwangsläufig die schönsten ihres Lebens. Damals war sie mit ihrem Kollegen Renato Salvatori verheiratet, den sie bei „Rocco und seine Brüder“ kennengelernt hatte. Es muss eine Ehe voller Blessuren gewesen sein. Dennoch nannte sie ihn stets den Mann ihres Lebens. Als Girardot in ihren letzten Jahren mit Alzheimer kämpfte, rief ihre Tochter jedoch Lelouch an und eröffnete ihm, er sei der einzige Mensch, an den sich seine Mutter noch erinnere. Wenn Lelouch sie besuchte, erkannte sie ihn mal und dann wieder nicht.
Irgendwie rührt mich diese Liebesgeschichte zwischen ihnen, die sie lange Zeit geheim hielten. Sie verloren sich nicht aus den Augen, 1995 arbeiteten sie noch einmal zusammen, bei Lelouchs Modernisierung von „Les Misérables“. Die Anekdote macht den Film nicht reicher, aber manche Szenen bezeichnender. „Sie machte mir Angst“, sagt Trintignant einmal zu und über Aimée, „sie sollte die letzte Frau in meinem Leben sein, das macht Angst.“ Dabei muss ich nun nicht automatisch an Girardot denken, sondern kann ganz in der Mythologie von „Ein Mann und eine Frau“ bleiben, dem Widerstreit zwischen den vorläufigen und den endgültigen Gefühlen. Wird er entschieden im letzten Bild des Films, einem prächtig kitschigen Sonnenuntergang? Zumindest zeigt er, dass sein Regisseur noch immer das Schöne sucht und die Wehmut nicht fürchtet.
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