Es versteckt sich noch
Es ist schön, dass man nun vielerorts wieder so herzlich willkommen geheißen wird. Man hat gefehlt. Nun ist die Dankbarkeit groß, die den Rückkehrenden entgegenschlägt. Die Werbebranche jedenfalls hat nicht verlernt, wie man seine Kunden adressiert. Eine Männerstimme von geschmeidiger, wohliger Wärme begrüßte uns im Dunkel des Kinosaals. Sie versäumte nicht, uns an das Ausschalten unserer Handys zu erinnern.
Wir fanden, dass es höchste Zeit war. Mein letzter Kinobesuch lag auf den Tag genau drei Monate zurück. Es traf sich, dass gestern »Parasite« in der Nachmittagsvorstellung im Cinemaxx lief. Meine zwei Begleiter kannten ihn noch nicht, und mir war er in all der Zeit nicht aus dem Kopf gegangen. Wie es scheint, will der Film partout nicht verschwinden. Selbst als er Anfang März schon auf Heimmedien erschien, behauptete er wacker seinen Spitzenplatz in den Arthouse-Charts. Das dürfte rekordverdächtig sein: ein halbes Jahr nach Kinostart. Das Filmangebot in Bielefeld hatte sich seither nicht geändert; nur »Man from Beirut« war hinzugekommen, der im Mai zunächst exklusiv in Autokinos gestartet worden war. Wir wären gern in ein kleineres Kino gegangen, aber die zwei Arthouses, die Kamera und das Lichtwerk, suchen noch nach einem Konzept für ihre Wiedereröffnung. Auf der Hinfahrt kamen wir an der Kamera vorbei, unter den alten Plakaten fiel mir Polanskis »Intrige« sofort ins Auge.
Wir kamen viel zu früh zur Vorstellung. Bevor wir die Karten kaufen konnten, wies uns die Kassiererin an, ein Formular mit unseren persönlichen Koordinaten auszufüllen. Es war gespenstisch leer in dem riesigen Multiplex. Die monumentale Architektur wäre auch in normalen Zeiten erdrückend. Nun zahlen die Multiplexe doppelt für ihre Großspurigkeit: an Energiekosten und Atmosphäre. Es brauchte Phantasie, sich in einem Kino zu fühlen. Am Tresen im ersten Stock konnte man Getränke, Popcorn, Nachos und dergleichen bekommen. Der Espresso war gut. An den Monitoren, auf denen sonst Trailer liefen, waren nur Sicherheitshinweise zu sehen. Es wirkte so, als wolle das Kino sich verstecken, als geniere es sich seiner Funktion und Anmutung. Oben, weit entfernt von unserem Saal, dem Kino 8, entdeckte ich in einer Ecke einen alten Filmprojektor. Er hatte einmal im Movie gestanden, das auf der anderen Seite des Bahnhofs lag und in meiner Jugend tolle Sommerprogramme zeigte. Unverhoffte Archäologie.Das Vorprogramm war kurz. Werbung lief kaum, für wen auch? Das Trailer-Programm hatte es, bei aller Unschuld, in sich. Es war dräuend. »Mulan« wurde noch immer für das Frühjahr angekündigt. "Das Heilmittel ist schlimmer als die Krankheit" hieß es in der Werbung für die Marvel-Produktion »Morbius«. »Willkommen in der Zukunft« schnappte ich auf, ich glaube, aus »Wonder Woman 1984«. Anderswo wurde für 2020 der Beginn einer neuen Ära vorhergesagt. Irgendwie stand überall die Welt auf dem Spiel. Beim neuen Bond hatte sie sich jedenfalls weitergedreht, auch ohne 007. "Die Zeit läuft am 17. Juli ab" verkündete der Teaser zu »Tenet«.
Ich hatte damit gerechnet, dass wir ganz allein sein würden. Jedoch kamen bald weitere Gäste hinzu, insgesamt etwa ein Dutzend. Immerhin. Das System der Platzwahl war uns nicht ganz klar. Weshalb konnte man in der letzten Reihe ohne Abs
tand nebeneinander sitzen? Ist ganz hinten – da, wo nach Ansicht meines Freundes Philip Lopate die Philosophen sitzen -, die Ansteckungsgefahr gebannt? Müssen sich die Cinéphilen, die seit der Nouvelle Vague ganz vorn sitzen, größere Sorgen machen. Wir saßen vorsichtshalber in der Mitte. Die vier Plätze, die zwischen uns leer stehen mussten, schienen uns übertrieben. Zwei hätten uns vollauf genügt. Auch mit ihnen ist natürlich ausgeschlossen, dass sich jene Innigkeit einstellt, die man einmal im Kino suchte. Jeder war als Reagierender auf sich allein gestellt. Würden Lachen oder Schrecken bei einer ausverkauften Vorstellung vernehmlicher sein?
Die Tonspur von »Parasite« allerdings füllte den Raum prächtig. Mitunter glaubte ich, Lärm und Schreie aus dem rechten, unteren Drittel des Kinosaals zu hören. Aber sie kamen aus dem geheimen Keller der Villa der Parks; also auch ein wenig auch unserem Unterbewussten. Bong Joon Hos Film hatte sich ohnehin verändert, seit ich ihn vor einem dreiviertel Jahr gesehen hatte. Er kam mir satirischer vor. In der Zwischenzeit hatte er sich zugespitzt, war unbarmherziger und seine Figuren waren einnehmender geworden. Als die akkurate Hausherrin den falschen Chauffeur nach ihrem verschwörerischen Handschlag fragt, ob er sich auch die Hände gewaschen habe, war dann doch leises Gelächter zu hören. Beim Verlassen des Kinos bekam ich Lust, gleich am nächsten Tag wieder zu kommen. Aber ich fand keinen Film, den ich sehen wollte.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns