Eine neue Beziehung
Fünf Uhr nachmittags ist mir eindeutig zu früh. Vermutlich begann nicht einmal Luis Bunuels heilige Apéritifstunde so zeitig. Aber ansonsten bin ich vollauf zufrieden mit Stanley Tuccis Plädoyer für den alltäglichen Cocktail.
In der anglo-amerikanischen Hemisphäre geht der Clip, in dem er seiner Frau Felicity einen Negroni mixt, schon seit einer Weile viral. Namentlich im Guardian wurden enthusiastische Mutmaßungen über seine kulturelle Bedeutung in Corona-Zeiten angestellt. Ich zögerte lange, ihn anzuschauen, weil bei der Beschreibung seiner Zutaten von "sweet Vermouth" die Rede war. Aber gestern sah ich ihn mir in einer akuten Schaffenskrise an und verstehe, was er damit meint. Nichts ist besser als ein Apéritif, um die Moral zu heben. Das ist allerdings ein französisches Motto, was insofern nicht ganz passt, weil es sich im Kern ja um eine italienische Errungenschaft handelt. Und wie wichtig diese Abkunft für den US-Schauspieler ist, zeigt sich allein schon in den Vornamen, die er seinen Kindern gegeben hat: Matteo Oliver, Isabell Concetta, Emilia Giovanna, Nicolo Robert, Camilla. Das sich darin auch englischsprachige Namensgebungen mischen, zeigt nur, wie eminent kosmopolitisch seine Lebenshaltung ausgerichtet ist. Sie zeigt sich auch trefflich in seinen hedonistischen Gepflogenheiten.
Von dem Clip gibt es auf Youtube mehrere Varianten, eine so berauschend wie die andere. Hinter dem bedenklichen süßen Vermouth verbirgt sich nicht etwa der allseits bekannte Martini Bianco (von dieser Marke rät Tucci entschieden, nicht snobistisch ab), sondern der rezeptgetreue rote, der etwas herber ist. Diesen mixt er mit Campari (aus Neapel, wie er betont) und Gin. Seine Zutaten sind zweifellos hochwertig; Product placement findet nicht statt. Als Alternative stellt er Wodka anheim, aber besteht dennoch auf einem Hauch Gin. Diese Version habe ich gestern Abend ausprobiert (die Schreibblockade dauert an), sie schmeckt bemerkenswert, verfügt aber über kein zwingendes Bekehrungspotenzial. So oder so bin ich heilfroh, dass er den Negroni seiner Gattin nicht on the rocks anbietet, sondern ausdrücklich "up", also im Cocktail-Tumbler geschüttelt. Er empfiehlt ihr, die Orangenscheibe ein wenig auszudrücken, bevor sie ins Glas gelant, dies aber bloß keinem zu verraten. Er serviert den Apéritif nicht im klassischen Cocktail-, sondern einem kelchförmigen Glas, was ich ihm nachsehe.
Ich kann nur spekulieren, weshalb diese Erfrischung im Netz eine so wohltuende Wirkung entfaltet. Der Guardian bringt Tuccis Sex-Appeal ins Spiel: ein Mann Ende Fünfzig, mit solch diskret muskulösen Armen, das gibt einem als Gleichaltrigem in der Tat zu denken. Ich vermute, der häusliche Aspekt dieser Unternehmung ist bedeutsam: die Zuverlässigkeit des Rituals, die genießerische Fürsorge eines Ehemanns, die man Tucci nach so vielen einschlägigen Rollen ohne das geringste Zögern zutraut. Der Zeitpunkt ist wichtig. Fünf Uhr, das ist jene magische Stunde, zu der in Hollywoodfilmen aus den 50ern die Pendler nach Hause in Suburbia kamen und sich auf einen behaglichen Abend einstimmten. Tuccis Ritual ist insofern restaurativ, hat jedoch nichts Patriarchalisches, er begreift sein Gegenüber als ebenbürtig: Sie filmt ihn immerhin. Und wie zufrieden er über das Gelingen ist! Dieser Moment gemahnt aber eben auch an die Ordnung und Struktur, die man nach Expertenmeinung dem Alltag gerade jetzt geben muss. Tucci legt Wert darauf, nach 17 Uhr auch gut gekleidet zu sein.
Auf Youtube fand ich noch einen weiteren Clip, in dem der britischstämmige Talkshow-Host James Corden sich von Stanly Tucci vorführen lässt, wie man einen richtigen Martini mixt. Er hat noch nie einen getrunken und spürt dringenden Nachholbedarf. Corden hatte den Guardian-Artikel offensichtlich auch gelesen, er schwärmt von den "manly arms", worüber Tucci bewundernswert uneitel lachen muss. Die neuerliche Berühmtheit geniert ihn jedoch nicht. Corden begrüßte ihn eingangs in London, wo er seit der Eheschließung mit Felicity lebt. Sie trägt diesen Namen zweifellos mit vollem Recht und ist überdies die Schwester der Schauspielerin Emily Blunt. Wie gesagt, eine kosmopolitische Angelegenheit.
Neben seinem Laptop hat Corden alle Zutaten bereitgestellt und wartet auf Anweisungen. Bemerkenswert, dass Tucci beim Dry Martini dieselbe Nonchalance walten lässt wie Bunuel: Der trockene Vermouth (wieder nicht von Martini, aber auch kein Noilly Prat) muss nur für einen Moment mit dem Eis in Berührung kommen, bevor er ausgeschüttet wird. Solche Umsicht können sich Regisseure und Schauspieler leisten, unsereins nicht. Gleichviel, wiederum herrscht Freude über das Gelingen und Tucci beglückwünscht seinen Gesprächspartner zu dessen inbrünstiger Entdeckung: "This is the beginning of a new relationship."
Corden fragt ihn, wie oft er das denn macht. Jeden Tag um fünf. "God bless you for that" entfährt es dem Talkmaster angesichts dieser weltumspannenden Wohltat Tuccis. Neben allem Genuss hat mich bei dem Schauspiel vor allem beschäftigt, wie klein Tuccis Küche ist. Der Starruhm mag im Smartphone-Zeitalter ohnehin längst mehr auf Nahbarkeit beruhen auf demonstrativer, puritanischer Normalität- sie müssen ein wenig so sein wie wir, sich zumindest etwas erhalten haben von ihrem Dasein vor der Prominenz, Das hat mit Corona neue Dimensionen der Vertraulichkeit gewonnen: Eine andere Pflicht zur Sichtbarkeit hat sich eingestellt. Sie lassen uns nun in die Banalität ihres Zuhauses schauen. Insgeheim vermuten wir natürlich immer noch, dass sie außerordentliche Leben führen. Erstaunlich, dass es in so engen Küchen stattfindet.
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