Nie das Gleiche
»Das perfekte Geheimnis« (2019). © Constantin Film
Ein Film in mehr als 18 nationalen Versionen, von China über Korea, Qatar bis nach Russland, Polen, Deutsch- und Griechenland: Barbara Schweizerhof über das Phänomen der »Perfetti Sconosciutti«
Genau genommen klingt die Prämisse eher öde: Sieben Freunde treffen sich zum Abendessen, beginnen ein gewagtes Gesellschaftsspiel und überwerfen sich dann über den Geheimnissen, die dabei gelüftet werden. Im Grunde hört sich das an wie der Plot eines Theaterstücks aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts: bürgerlich, textlastig, boulevardesk. Und dann wird ein Film von 2016 mit eben diesem Plot im Jahr 2019 mit einem Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde gewürdigt – für die meisten Remakes, die ein Film je erfahren hat.
Zum Zeitpunkt des Eintrags waren es 18 Neufassungen, mit einem kombinierten Einspielergebnis von über 500 Millionen Euro, und das in so unterschiedlichen Ländern wie China, Südkorea, Indien, Qatar und Mexiko. Innerhalb Europas haben sowohl die Westeuropäer Frankreich und Spanien als auch die Osteuropäer Polen, Ungarn und Russland eigene Versionen aufgelegt. Der Norden ist durch Schweden und der Süden durch Griechenland vertreten, wo das Remake im Dezember 2016, nur zehn Monate nach dem Start des Originals in Italien, herauskam. Besonders schnell ging es auch in der Türkei – was sicher damit zusammenhing, dass mit Regisseur Ferzan Özpetek ein prominenter Turko-Italiener produzierte. Als eins der letzten Länder dieser Reihe startete in Deutschland am 31. Oktober 2019 Bora Dagtekins »Das perfekte Geheimnis«, der mit über fünf Millionen Zuschauern ein großer Kinohit wurde.
Die einzige Fassung, mit der man beim Start hätte rechnen können, nämlich das amerikanische Remake, lässt unterdessen auf sich warten. Ausgerechnet Harvey Weinstein hatte die Rechte gekauft – das Untergehen der Weinstein Company 2018 hatte die Produktion zunächst gestoppt. Lange war der Name Charlize Theron damit verknüpft; im Dezember 2019 schließlich wurde angekündigt, dass die afroamerikanische Comedienne Issa Rae (»Insecure«) nicht nur spielen, sondern auch das Drehbuch schreiben wird. Der Beginn der Dreharbeiten hat sich durch die Covid-19-Pandemie erneut verzögert.
Es fällt geradezu verführerisch leicht, eine These dazu zu verfassen, was den Stoff der »Perfetti Sconosciutti« weltweit so attraktiv macht: die Sache mit den Handys. Das Gesellschaftsspiel nämlich, auf das sich die Protagonisten von Paolo Genoveses Film einigen, geht so: Alle sieben legen für die Dauer des Abendessens ihr Mobiltelefon auf den Tisch. Jeder Anruf, jede Nachricht oder Mail werden öffentlich in Empfang genommen. Die meisten am Tisch wissen da schon, dass der Abend für sie nicht gut ausgehen wird. Einzig die junge Naive in der Runde (im italienischen Original wird sie von Alba Rohrwacher gespielt) beteuert treuherzig, ihr Handy noch nicht einmal durch einen Code gesperrt zu haben. Ihre Vertrauensseligkeit wird sich am Ende des Abends als ihr großer Fehler erwiesen haben. Wo der Großteil der Remakes die »perfekten Unbekannten« des italienischen Originals übernimmt, lautet der Titel der türkischen Fassung »Der Fremde in meiner Tasche«, die indische heißt »Lautsprecher«, die russische »Laute Verbindung«; die ungarische spielt am Silvesterabend und trägt den Titel »Frohes Neues«; einzig die chinesische verstärkt den smartphone-kritischen Aspekt noch mit »Kill Mobile«.
Aber ist es wirklich so einfach? Gibt es nicht genügend chinesische, indische, griechische Drehbücher, die das eigentümliche Verhältnis, das der moderne Mensch zu seinem Mobiltelefon unterhält, zum Thema machen? Oder andersherum: Ist das Abendessen unter Freunden wirklich ein so origineller, einzigartiger Rahmen, um von der Allmacht der Technik und wie sie uns und unser Privatleben beherrscht, zu erzählen, dass man die Rechte an diesem einen italienischen Film kaufen muss? Was seinen Film denn so besonders mache, wird Regisseur Paolo Genovese wieder und wieder gefragt. Er antwortet stets mit vollendetem Understatement: »Nun, es gibt sicher bessere Filme, aber meiner hat ein bestimmtes soziales Phänomen erfasst, mit dem sich viele identifizieren können.«
Ein besseres Schlaglicht auf das Phänomen erhält man, wenn man die Frage etwas spezifiziert: Warum wird dieser Film eigentlich in jedem Land neu gemacht, statt dass man den Originalfilm ins Kino bringt? Die Antwort ist schnöde kommerziell und legt den uralten Trend offen, der besonders bei den Komödien die Kinozuschauer an die eigenen nationalen Stars bindet. Eine Komödie mit Elyas M'Barek hat in Deutschland eben sehr viel mehr Zugkraft als eine mit Valerio Mastandrea.
Zum anderen zeigt sich, wenn man ein paar der Fassungen miteinander vergleicht, dass es zwar immer nur Details sind, in denen sie vom Original abweichen, dass in diesen Details aber oft ein großer Reiz liegt. Bei den Chinesen etwa legt der Hallodri der Freundesgruppe, der Frauenheld, der es aber karrieretechnisch nicht so weit gebracht hat wie seine drei Jugendfreunde, statt Smartphone ein altes Nokia auf den Tisch; es ist sowohl ein Statement seiner relativen Mittellosigkeit als auch seiner Raffinesse: ein Nokia macht weniger »durchsichtig« als ein iPhone mit Nachrichten im Sperrbildschirm. In der größten Abweichung vom Original ist die Figur des schwulen Freundes hier ausgetauscht gegen eine forsche Karrierefrau – deren Geheimnis darin besteht, dass sie sexuell von ihrem Chef erpresst wird.
Wie gesagt, die Unterschiede scheinen oft marginal und rein äußerlich: Bei den Türken sieht das Essen am besten aus, bei den Franzosen wird daraus ein eigenes Thema: Den Gästen schmeckt es nicht, weil der Hausherr zu »experimentell« kocht. In Südkorea ist das Patriarchat noch recht ungebrochen, dementsprechend arbeiten sich die Helden an traditionellen Geschlechterrollen ab; in China scheinen sie egalitärer, aber das Kochen ist hier noch selbstverständlich Frauensache. In Frankreich wird der schwule Freund nach dem Outing dazu ermutigt, gegen seine Entlassung zu klagen; im von Staats wegen homophoben Russland muss als Ermutigung an der Stelle das bloße Mitgefühl reichen.
Die Konstellation ist immer wieder dieselbe, aber jedes Mal wird sie mit anderen Persönlichkeiten gefüllt: Die drei Ehen, die während des Abendessens zu zerbrechen drohen, sind frei nach Tolstoi immer wieder auf verschiedene Weise unglücklich – und sie sind einem in den Filmen auch wechselnd sympathisch. Die Filme leben sehr stark von ihrem jeweiligen Schauspielensemble; die russische Fassung verfügt in dieser Hinsicht über das stärkste Team: Dank der Schauspieltruppe »Kvartet I« agiert hier ein Ensemble, das so wunderbar ökonomisch und aufeinander abgestimmt arbeitet, dass der Film über den abgezirkelten Plot hinweg nichts weniger als den prekären Stand der russischen liberalen Mittelklasse unter Putin zeigt. Als Blick in die Wohnzimmer des jeweiligen Landes erzählt jeder Film mit denselben Mitteln – eine immer wieder andere Geschichte über Freundschaft, Altern, Liebe und Sex.
In der visuellen Gestaltung sind sich die Filme jedoch verblüffend ähnlich: Bei den Russen ist es eine weitläufig ausgebaute Datscha, bei den anderen immer wieder die spektakuläre Dachwohnung mit großzügiger Terrasse und moderner Raumaufteilung, bei der Küche, Ess- und Wohnzimmer ineinander übergehen und der Kamera so ermöglichen, mit Durchsicht, Hintergrund und Vordergrund zu arbeiten. Einzelne Einstellungen wie das Gruppenselfie auf der Terrasse wiederholen sich in jedem Film. Tatsächlich muss man die These anders fassen: Es ist gerade nicht der Inhalt, der »Perfetti Sconosciutti« so nachahmenswert macht, es ist die Form, die Genovese hier geschaffen hat, eine Art Spielplan, der sich wunderbar befüllen lässt, immer wieder neu, immer wieder sehr spezifisch. Universelles und Eigenes kommen perfekt zusammen und sind sich gar nicht fremd.
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