Alles auf Anfang
Es geht allmählich wieder los, langsam und unsicher. Die Branchenblätter melden schon wieder Einspielergebnisse, nicht mehr allein die Erlöse aus Video on Demand, sondern aus physisch existierenden Kinos. Der Spitzenreiter des globalen Boxoffice ist verblüffend, nicht nur, weil er der aktuellen moralischen Konjunktur trotzt: »A Rainy Day in New York« von Woody Allen hat am letzten Wochenende in Südkorea 330.000 Dollar eingespielt und liegt damit weit vor den Zahlen, welche »The Wretched« in den USA, »Die schönste Zeit unseres Lebens« in Australien und der letzte Pixar-Film in Norwegen verzeichnen.
Dass Dani Levys Kängurukomödie die Charts der hiesigen Autokinos anführt, muss demgegenüber weniger überraschen. Aber die Branche steckt in den Startlöchern. In Spanien durften am letzten Montag wieder Dreharbeiten beginnen beziehungsweise abgebrochene wiederaufgenommen werden. Die Website Cineuropa hat gerade einen notwendig verwirrenden, aber immerhin alphabetisch geordneten Fahrplan zusammengestellt, in welchem Umfang und Tempo in verschiedenen europäischen Ländern bald Kinos geöffnet und Filmklappen geschlagen werden dürfen. Ich muss gestehen, innerlich bin ich noch nicht auf einen so raschen Reboot vorbereitet.
Andererseits suche ich auch nicht nach einer Gebrauchsanweisung für das Danach. Stattdessen gehen mir momentan die berührenden Lebenszeichen durch den Kopf, die einige Filmemacher aus ihrer Quarantäne an die holländische Zeitschrift »filmkrant« geschickt haben. Den Anfang machte vor drei Wochen Jia Zhang-ke, auf den Apitchatpong Weerasethakul unmittelbar reagierte. Der jüngste Brief kam von Radu Jade. Er macht seiner Sorge Luft über den erstarkenden Einfluss der Orthodoxen Kirche in der rumänischen Gesellschaft und Politik; eindringlich erinnert der Regisseur an die verheerende Rolle, die sie unter dem Faschismus und unter Ceausescu spielte. Ich bin gespannt auf den nächsten Korrespondenten, hoffe, dass das Innehalten noch eine Gnadenfrist hat, bevor wir wieder zur Tagesordnung übergehen. Die Briefe liegen in holländischer Übersetzung und im englischen Original vor, das man allerdings ein bisschen suchen muss.
In »Still Walking« berichtet Jia Zhang-ke zunächst von dem Schock, nach der Berlinale in ein ganz anderes Leben zurückzukehren. In der Isolation erinnert sich an den ersten Kinonachmittag, zu dem ihn einst sein Vater mitnahm, als Kind inmitten von fünfhundert Zuschauern, die lebhaft reagierten auf den Film. Seine Anfänge als Filmemacher waren zu Beginn der 1990er Jahre eng mit einer anderen Vertriebsform verbunden, die daheim unter dem Radar der chinesischen Zensur stattfinden musste: auf DVD in kleinen Zirkeln, während seine Filme im Westen ein großes Festivalpublikum fanden. Er schildert aktuelle Ängste, spricht von einem Verlust an Vertrauen. In wen, in was? Fragen, die in China noch einen anderen Klang haben. Zwischendurch hat er einen Kurzfilm im Auftrag des Festivals von Thessaloniki gedreht, auf dem Smartphone. Diese biographische wie mediale Spannung löst Jia Zhang-ke auf in ein Bekenntnis zur Sehnsucht, Filme endlich wieder Schulter an Schulter in einem Kino sehen zu können: Gemeinschaft, die schönste Geste, zu der die Menschheit fähig ist.
Weerasethakul knüpft in »The Cinema of Now« enthusiastisch daran an. Es ist schön, wie er in einer Situation existenzieller Bewegungslosigkeit und Verletzbarkeit das Filmemachen als Reise definiert, die ein Ziel hat. Das ist sein Vorteil, denn dergleichen kennt eine Pandemie nicht. Seine liebenswürdige Betrachtung des Pflaumenbaums vor seinem Fenster habe ich an dieser Stelle bereits erwähnt (in »Bewegungsfreiheit« vom 9.4.), und die Hoffnung auf eine poetische Krisenbewältigung, die sie schürt, enttäuscht seine neue Einlassung nicht. Auf den verrückten Bogen, den er nun schlägt, bereitet sie indes nicht vor. Der ist hinreißend, lesen Sie selbst. Seine Prognose eines neuen Sehens, das sich an der Ereignislosigkeit schult, ist wunderbar: Die Vorstellung, seinesgleichen (also Béla Tarr, Tsai Ming-liang, Pedro Costa und andere Vertreter eines entschleunigten Kinos), würde demnächst zu Millionären avancieren, die sich gegen öffentliche Begehrlichkeiten mit Sonnenbrillen und Leibwächtern wehren müssen, zeugt von authentischer Selbstironie. Grandios, wie er dabei am Ende zu den ersten Filmen der Brüder Lumière gelangt!
Das Szenario, das er für das Kino der Zukunft entwirft, liest sich wie ein Fiebertraum des jungen Luis Bunuel oder seiner Spießgesellen, den Surrealisten. Ich muss derzeit ohnehin oft an Bunuels »Der Würgeengel« denken, wo die bourgeoise Gesellschaft ihre Lethargie plötzlich überwindet, als sie sich in ihre Ausgangsposition zurückversetzt. Ich glaube, Don Luis hat das ganz filmpraktisch gedacht, mit der Regieanweisung »Alles auf Anfang« als Ausweg. Das wäre eine schöne Wette auf die Zukunft, den Lebenserhalt des Kinos. Aber nicht als Wiederholung dessen, was vorher war. Sondern als Rückkehr zu dem, was sein könnte.
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