Fußnoten
"Wenn ich gewusst hätte, dass die Dinge so vergänglich sind", sagt Großvater Sam in »Avalon«, "hätte ich mich besser an sie erinnert." Der von Armin Mueller-Stahl verkörperte Greis ist eine einheitsstiftende, vitale Kraft in dem Generationenfilm, den Barry Levinson 1990 als dritten Teil eines Zyklus' über seine Heimatstadt Baltimore drehte.
Sam wird nicht müde, seinem Enkel (gespielt vom ganz jungen Elijah Wood) Geschichten aus seinem Leben und dem seiner Familie zu erzählen: wie er 1914 in den USA ankam und vom Feuerwerk am 4. Juli begrüßt wurde; wie er und seine Brüder amerikanische Traditionen und Rituale erlernten und es bald zu einigem Wohlstand brachten. »Avalon« ist ein wehmütiger Film über die mündliche Überlieferung, ein Abgesang letztlich, denn mit den Attraktion des Fernsehens können Sams Erzählungen nicht mehr konkurrieren.
Ich bin wieder auf ihn gestoßen, nach vielen Jahren warmer, aber verblassender Erinnerung, als ich nachforschen wollte, ob es Filme über die Spanische Grippe gibt. Die Suche nach dem Schlagwort "spanish flu" in der IMDb ergab 30 Titel. Darunter sind einige TV-Dokumentationen, Episoden von »Downton Abbey« und »Das Haus am Eaton Place« sowie ein britischer Fernsehfilm (»The Flu that killed 50 Million« von 2018), der sich ausführlich mit der Epidemie beschäftigt, die vor einem Jahrhundert in drei Wellen wütete. Die Datenbank verzeichnet nur ein Halbdutzend Kinofilme, darunter ein Biopic über Egon Schiele, der im Oktober 1918 an ihr starb. Der Wikipedia-Eintrag zur Epidemie nennt noch »Zeit des Erwachens« nach Oliver Sacks' Buch, wo neurologische Spätfolgen erwähnt werden. Dass »Avalon« in der Liste auftaucht, darf erstaunen. Mit einem Algorithmus wäre man nicht ohne weiteres auf ihn gestoßen, da müssen echte Spürhunde am Werk gewesen sein. Im Drehbuch erzählt Sam von einem seiner vier Brüder: "Then out of the blue William gets the flu. It was a terrible epidemic – the flu of 1919. Thousands died." Der Film blendet zurück, zeigt William im Fieber, während seine Angehörigen im Flur vor seinem Schlafzimmer bangen. "Wiliam died. He was a young man. He left three children", sagt Sam aus dem Off, "how quickly the time goes."
Die Epidemie war Jahrzehnte lang eine ferne Katastrophe, über die man nur gelegentlich las: überschattet vom Ersten Weltkrieg, obwohl sie viel mehr Todesopfer forderte; so nachhaltig beschwiegen wie der Genozid an den Armeniern, abgedrängt ins Unterbewusste der Zivilisation. Erloschen ist die Erinnerung an sie natürlich nicht. Mein Freund Max Tessier, ein großer Kenner des asiatischen Kinos, schreibt mir aus Manila, wo er jetzt lebt, dass man nun wieder davon spricht, dass ein Großteil der dortigen Hafenarbeiter an der Grippe starben. Ich kenne Max als gewieften Pessimisten, jetzt hat er sich in einen Apokalyptiker gewandelt. "Die Menschheit lernt nichts dazu", meint er, "weder aus Kriegen noch aus Epidemien."
Die Bedrohung wurde vor 100 Jahren von Regierungen, Behörden und Medizinern unterschätzt. Sams Familie hatte Glück, dass sie sich Baltimore ansiedelte und nicht im benachbarten Philadelphia, wo die Gegenmaßnahmen notorisch nachlässig waren und verheerend wirkten. Er wäre wohl nicht übriggeblieben, um späteren Generationen zu berichten.
Wie die Menschen damals mit diesem zweiten Schrecken umgingen, ist in »Mathilde – Eine große Liebe« von Jean-Pierre Jeunet ansatzweise zu erahnen. Audrey Tautou will sich nicht mit der Nachricht abfinden, dass ihr Verlobter, der wegen Selbstverstümmelung zum Tod verurteilt wurde, an der Somme hingerichtet wurde. Unbeirrt sucht sie nach ihm, gibt jahrelang die Hoffnung nicht auf. Sie kommt lauter verleugten Wahrheiten auf die Spur. In einem Hospital findet sie einen Sergeanten, der den sprechenden Namen Esperanza trägt. Er brachte die Verurteilten damals zu dem Schützengraben, in dem sie den Tod findet sollten und der den unvergesslichen Namen "Bingo crépuscule" (Bingo der Dämmerung) trug. Die Erinnerung daran lastet schwer auf seinem Gewissen. Im Spital fragt Tautou den kranken Zeugen, ob er Senfgas abbekommen hätte. "Nicht einmal das," antwortet Esperanza, "die Spanische Grippe. Das ist so, als gäbe der Tod vor, einen zu übersehen." In der Romanvorlage von Sébastien Japrisot ist von der "asiatischen Grippe" die Rede, was ein Übersetzungsfehler sein könnte, aber so oder so zeigt, wie ungenau man es nahm. Ein Film über das Wesen der Erinnerung und einer über die Verdrängung: Die Katastrophe hat im Kino nur verwehte Spuren hinterlassen.
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