Eine Gemeinschaftskünstlerin
Bei der Verleihung der César vor zwei Jahren spielten nicht die Preisträger die Hauptrolle, sondern eine weiße Schleife. Drei Tage zuvor gab es sie noch gar nicht. Die französische Filmakademie musste in Windeseile 2000 Exemplare herstellen lassen, damit ihre Mitglieder ein politisches Zeichen setzen konnten. Sie war der roten AIDS-Schleife nachempfunden.
Die Idee dazu stammte von Tonie Marshall, der einzigen Regisseurin, die den César für die Beste Regie erhalten hat. Das Schleifchen war das Symbol der gerade erst gegründeten Bewegung #Maintenant on agit (Jetzt handeln wir), die gegen sexuelle Gewalt kämpft. Sie zu tragen war eine diskrete, aber nun unmissverständliche Geste. Natürlich warf die Weinstein-Affäre, die ein Vierteljahr zuvor die Filmbranche erschütterte, ihren Schatten über das alljährliche Familientreffen des französischen Kinos. Die Zeremonie geriet zu einer der längsten überhaupt, denn sie verstand sich auch als Forum einer kulturellen Revolution im Filmgeschäft. Es blieb zu hoffen, dass das Tragen der Schleife mehr als nur Gratismut signalisierte.Allerdings passte sie trefflich zum großen Gewinner des Abends, denn »120 BPM« handelt von einer Organisation, die sich prächtig auf Symbolpolitik verstand.: »Act Up« machte Anfang der 1990er Jahren in Frankreich mit spektakulären Aktionen auf die Gefahr von AIDS und die Ächtung der Opfer aufmerksam. Die überzeugte Feministin und auch sonst glühende Aktivistin Tonie Marshall hatte sichtlich Freude an diesem Triumph.
Die Filmakademie, die letzthin selbst viele schlechte Nachrichten produzierte, übermittelte vor zwei Stunden eine traurige: Die Regisseurin von »Schöne Venus« ist am Donnerstag im Alter von nur 68 Jahren nach langer Krankheit gestorben. Mein erster Gedanke galt ihrer Mutter, der Schauspielerin Micheline Presle. Und ich musste an einen Aphorismus denken, den ich in den Unterlagen meines Vaters fand, der Sinnsprüche liebte und fleißig notierte: »Wenn Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit. Wenn Kinder sterben, stirbt die Zukunft.« Das hätte für Tonie Marshalls Geschmack sicher eine Spur zu pathetisch geklungen. Sie war eine Spezialistin für Komödien, zunächst als Nebendarstellerin in den 1970ern bei Jacques Demy und Claude Zidi; später brachte sie als Autorin und Regisseurin mit »Die Detektivin« (1994, der Originaltitel »Pas très catholique« ist beziehungsreicher) frischen Wind in die französische Geschlechterkomödie.
In »Schöne Venus« führte sie 1999 das Publikum in den (beinahe) exklusiv weiblichen Mikrokosmos eines Kosmetiksalons ein. Die Schönheit ist hier eine moralische Kategorie von absoluter Verbindlichkeit. Mir gefiel, dass Marshall diese Welt der nachgebesserten Anmut ironisch, aber ohne Hohn betrachtete. Sie diente ihr vielmehr Anlass, an die französische Tradition des tragikomischen Milieufilms anzuknüpfen, der stets auch eine Hommage war an Ensembles robuster Alltagsheldinnen. Sie gab dem Personal mit leichthändigen Pinselstrichen Kontur, ohne dabei Konflikte und Abgründe vollends zu übermalen. Sie hatte, voller augenzwinkernder Verweise auf die Filmgeschichte, eine verblüffende Besetzung assembliert, in der gleich mehrere Generationen des französischen Kinos glücklich aufeinandertrafen, Edith Scob, Marie Rivière, Robert Hossein, Bulle Ogier, Audrey Tautou, Mathilde Seigner und in deren Zentrum eine großartige Nathalie Baye stand. Sie spielt in diesem doppelbödigen Paradies die Rolle des abtrünnigen Engels. »Schöne Venus« ist eine in vieler Hinsicht liebevolle Komödie: ein aufgeklärter Märchenfilm.
Dieser Erfolg (Marshall erhielt zudem den César fürs Beste Drehbuch und Tautou wurde als Beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet) überschattete stes ihr übriges Werk. An ihn konnte sie auch nicht mit der Miniserie für arte anknüpfen, die sie aus dem Venus-Institut-Stoff entwickelte. Aber eine eigenen, leichten und wehmütigen Tonfall hatten all ihre Filme. Ich mag besonders »Kinder des Scheusals«, den sie drei Jahre zuvor gedreht hatte, und in dem Anémone, Jean Yanne und Nathalie Baye die Titelrollen spielen: wieder ein Zusammentreffen der Schauspielergenerationen. Tonie selbst entstammte ja dem französischen Filmadel (im Eintrag »Ein Hauptquartier« vom 1. Juli 2018 spielen ihre Mutter und sie eine wichtige Rolle), ihr Vater war der amerikanische Schauspieler und Produzent William Marshall.
Ich lernte sie 2005 kennen, als ich im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Mit Frankreich am Set« eine Master Class mit ihr an der dffb moderierte. Ich hatte mich intensiv vorbereitet, aber am Ende nicht viel zu tun. Tonie war ein temperamentvolle Vermittlerin, die augenblicklich eine Verbindung zu den Studenten herstellte. Sie sprach gern über ihre eigene Arbeit, aber noch lieber über den Beitrag der Schauspieler und Teammitglieder. Ich hatte den Eindruck, diese Haltung schätzten die Studenten vor allem an ihr. Nach dem Gespräch gingen wir gemeinsam mit ihnen zum Mittagessen. Da setzte sich die Diskussion lebhaft fort. Sie wollte weder deren Kumpel noch ein Vorbild sein, vielmehr eine Kollegin. So angeregt habe sie nie zuvor und danach mit Filmstudenten gesprochen, versicherte sie mir bei einer späteren Begegnung in Paris. Ihre Anwesenheit in Berlin nutzte sie übrigens. um später ins Synchronstudio zu gehen, wo die deutsche Fassung ihrer TV-Adaption von »Schöne Venus« entstand. »Nein, die Sprache verstehe ich nicht«, erwiderte sie auf meinen erstaunten Blick, »aber ich werde hören, ob sie den richtigen Ton treffen.«
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