Kritik zu Die wilde Zeit

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Mit unaufdringlichem Zeitkolorit erzählt Olivier Assayas von den gesellschaftlichen Umbrüchen seiner Jugend: ein Lehrstück darüber, wie sich die Vergangenheit im Kino in Gegenwart verwandeln lässt

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Ich habe Angst, meine Jugend zu verpassen«, sagt Gilles einmal zu einem Freund. Dieser Satz muss den Zuschauer in Erstaunen versetzen, selbst wenn er der Figur Glauben schenken mag. Der 17-Jährige lebt in einer Zeit, die intensives Erleben ermöglicht. Sie fordert Teilhabe an ihren Strömungen und Umbrüchen. Seine Generation kann die Zukunft in Besitz nehmen. Gilles engagiert sich leidenschaftlich, wirkt an Flugblattaktionen in seiner Schule mit, verkauft Pamphlete und alternative Zeitungen am Ausgang des Pausenhofs. Seine Sammlung von Büchern und Plattenalben ist ein glühendes Bekenntnis. Und die Liebe kann er in einer Freiheit entdecken, die der Generation seiner Eltern verwehrt blieb.

Es fällt nicht schwer, in Gilles ein Alter Ego des Regisseurs auszumachen. Olivier Assayas hat all dies in seiner Jugend erlebt. Wie Gilles hatte er einen Vater, der als Drehbuchautor beim Fernsehen arbeitete. Im selben Alter versuchte er sich als Maler. Er teilte Gilles’ inneren Aufruhr und seine Zweifel, seine Furcht vor dem Ungewissen. Viele Dialoge sind der Erinnerung abgelauscht. Entgegen der landläufigen Annahme sagen die autobiographischen Wurzeln eines Films freilich noch nichts über seine Qualität aus. Die Aufrichtigkeit gegenüber den eigenen Erfahrungen mag ihn beglaubigen, bürgt aber nicht für seinen künstlerischen Rang. Auch zu seiner Authentizitä trägt sie nur bedingt bei. Von der legendären Demonstration auf der Place de Clichy am 9. Februar 1971 ist Assayas beispielsweise nur in Erinnerung geblieben, wie er vor der Polizei floh. Wie erbittert sich die Gewaltbereitschaft von Ordnungsmacht und Demonstranten auf dem Platz Bahn brach, mussten ihm andere Zeitzeugen berichten.

In dieser Skepsis gegenüber der eigenen Lebensgeschichte liegt eine wachsame Großzügigkeit. Der Regisseur, der früher den subjektiven Blick als wesentliche Legitimation seines Kinos begriff, weitet in Die wilde Zeit die Perspektive von der individuellen zu einer kollektiven aus. Während er 1994 in L’eau froide die eigene Jugend gleichsam in Nahaufnahme in den Blick nahm, tut er es 18 Jahre später in einer Halbtotalen. Sie verlangt vielleicht noch größere Präzision. Das Antlitz der Epoche rekonstruieren die Szenen- und Kostümbildner so unverkennbar wie unaufdringlich; den Requisiteuren ist ein Glanzstück der Archäologie des Alltäglichen gelungen.

Der Originaltitel des Films, Après Mai, nimmt eine historische Präzisierung vor. Die Handlung setzt drei Jahre nach 1968 ein. Es ist keine Zeit des Abglanzes, der Ernüchterung oder Entzauberung. Assayas’ Figuren dürfen sie als heroische Periode in ihrem Leben betrachten. Der Vergleich zu Philippe Garrels Les amants réguliers ist aufschlussreich. Garrel postuliert bereits für das Jahr 1968 eine Abkehr ins Private. Sein zentrales Bild ist die Matratze, auf der debattiert, Opium geraucht und geliebt wird. Das visuelle Leitmotiv von Assayas’ Film hingegen ist das Feuer, die Flamme. Er buchstabiert es in aller Vieldeutigkeit durch: als Licht und Zerstörung, als etwas, das verzehrt oder weitergetragen wird.

Die Epoche wird zugleich kenntlich als Zeit, in der ein mulmiger Rechtfertigungsdrang herrscht. Wer Simon Leys’ Buch über die Verheerungen der Kulturrevolution (»Maos neue Kleider«) liest, zieht den Verdacht der Illoyalität auf sich, des Verrats an der gemeinsamen Sache. Das »Danach« des Originaltitels eröffnet noch eine weitere Perspektive: Zwar prägen Epochen die Menschen, aber sie müssen nicht deckungsgleich mit ihnen bleiben. Diese Ablösung vollziehen Assayas’ Figuren meist in der Hinwendung zu den Künsten. Dort finden sie eine andere Art von Freiheit. Plansequenzen gewähren den Darstellern Bewegungsfreiheit und Integrität.

Die Hauptrollen hat der Regisseur fast ausschließlich Laien anvertraut, die eine eigene Verlegenheit und Entschlossenheit in die Figuren einbringen. Das brauchte Mut und Gelassenheit. Assayas kann von den Bildungsabenteuern dieser, nicht nur seiner Jugend ohne Nostalgie erzählen: Das Licht und die Farben sind erstaunlich fahl. Er fällt kein Urteil aus späterer Einsicht. Den einstigen Idealismus muss er nicht als naiv entlarven, er nimmt die Überzeugungen seiner Charaktere ernst. Es ist zwar anders gekommen. Unrecht hatten sie deshalb nicht

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Guter Film, gute Kritik.

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