Im Kinodunkel sind alle gleich
Wenn sich auch an der Kulisse des Berlinale Palasts am Potsdamer Platz kaum etwas verändert hat, der Kontrast zu den Vorjahren war deutlich zu spüren. Die feierliche Eröffnung der 70. Filmfestspiele sollte eigentlich ganz im Zeichen einer Erneuerung unter der frisch angetretenen Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek stehen. Doch die Betroffenheit über das rassistische Attentat von Hanau ließ die unter Dieter Kosslick stets launig gehaltene Veranstaltung ungewöhnlich ernst geraten.
Das Festival wende sich gegen Rassismus und Gewalt, hieß es immer wieder. Mit einer Schweigeminute wurde der Opfer gedacht. Die Berlinale stehe für Toleranz, Respekt und Gastfreundschaft, betonte Rissenbeek bei ihrer Begrüßung. Und Carlo Chatrian ging in seiner Ansprache noch etwas weiter, indem er die Solidarität einer Kinogemeinschaft beschwor: »Wenn wir im Kino sitzen, sind wir ein Publikum, ohne Unterschiede was Klasse, Sprache, Religion angeht. Das Kino bringt uns zusammen«.
Mit ernsten Tonfall hatte davor bereits die Pressekonferenz mit der Internationalen Jury begonnen, der in diesem Jahr der britische Schauspieler Jeremy Irons vorsteht. Seine Ernennung hatte wegen einiger unglücklicher Äußerungen im Bezug auf Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe Polemiken ausgelöst.
Als Antwort stellte Irons der Befragung durch die Journalisten, unter Entschuldigung für die Zeitverschwendung, nun eine entschiedene Erklärung »seiner Ansichten« voran: Er unterstütze »von ganzem Herzen« den Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen weltweit und sei gegen jede Art der sexuellen Belästigung privat wie am Arbeitsplatz. Er begrüße Gesetze, die die gleichgeschlechtliche Eheschließung ermöglichten, und hoffe, dass immer mehr Länder solche verabschieden. Und er trete für das Recht von Frauen auf Abtreibung ein. Vom Programm der Berlinale erwarte er nun genau das: Filme zu sehen, die Vorurteile und Haltungen in Frage stellen und schwierige Probleme aufgreifen.
Solchen Ansprüchen konnte der Eröffnungsfilm, »My Salinger Year« von Philippe Falardeau, dann leider nicht wirklich gerecht werden. Außerhalb des Rennens um den Goldenen Bären startend, erzählt die Verfilmung der 2014 erschienenen Memoiren von Joanna Rakoff von einer 20-Jährigen, die Mitte der 90er nach New York kommt. Im Film wird sie von Margaret Qualley gespielt, der Tochter von Andie MacDowell, die im vergangenen Jahr durch ihre Rolle als Hippie-Mädchen in Quentin Tarantinos »Once Upon a Time in Hollywood« aufgefallen war.
Qualley spielt Joanna als beherzte junge Naive, wie man sie aus vielerlei Filmen kennt. Schüchtern, aber doch nicht auf den Mund gefallen, kommt Joanna ohne jede Qualifizierung zu einem Job in einer gediegenen Literaturagentur, der Sigourney Weaver als elegant-manierierter Chefin vorsteht. Wichtigster Kunde der Agentur ist JD Salinger, oder »Jerry«, wie in Weavers Figur Margaret nennt, und wichtigste Aufgabe für Joanna ist es, die Fan-Briefe, die Salinger auch 30 Jahre nach seinem kompletten Rückzug aus der Öffentlichkeit noch bekommt, von diesem fern zu halten.
Falardeau zeigt die 90er Jahre in seinem Film, als handle es sich um eine historische Epoche, die man heute kaum mehr versteht. Fast macht er sich lustig über Menschen, für die der »Personal Computer« ein so unbegriffenes Konzept war, dass sie ihn für eine vorübergehende Erscheinung hielten, die mehr Arbeit macht als erleichtert. Für die Handlung ist außerdem wichtig, dass Telefone noch reine »Landleitungen« waren mit Zentralnummern – nur so nämlich kommt die junge Heldin in Kontakt mit Salinger, der sich trotz Schwerhörigkeit brav für die Neue in der Agentur interessiert und ihr Mut zur eigenen Autorschaft macht: »Jeden Tag schreiben!«.
»My Salinger Year« schwankt unbestimmt zwischen solchen Andeutungen auf die Putzigkeiten des vordigitalen Jahrhunderts, einer normalen Coming-of-Age-Geschichte – Joanna emanzipiert sich von gleich zwei Boyfriends – und einer Chefinnen-Satire a la »Der Teufel trägt Prada« hin und her. Zwischendurch zeigt er in Vignetten die Fans, die sich trotz unterschiedlicher Hintergründe von Vietnam-Veteranen bis zur biederen Hausfrau auf Innigste mit »Fänger im Roggen«-Helden Holden Caulfield identifizieren.
Das alles kommt launig daher, wo etwas Ernst Not getan hätte. Mit seiner betonten Harmlosigkeit funktionierte der Film zwar als Eröffnung eines Festivals, das viele Geschmäcker gleichzeitig befriedigen muss. Für die Kosslick-Ära wäre »My Salinger Year« noch gut durchgegangen. Als Auftakt für ein Festival, das unter der neuen Doppelspitze Chatrian-Rissenbeek sich und die Kunst des Kinos auf neue Weise ernst nehmen will, erwies er sich als erste echte Enttäuschung.
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