Kritik zu Jenseits des Sichtbaren – Hilma Af Klint
Halina Dyrschka korrigiert mit ihrem postumen Porträt die Kunstgeschichte der abstrakten Malerei
1935 reklamierte der Maler Wassily Kandinsky in einem Brief selbstbewusst, mit dem »ersten abstrakten Bild der Welt« Geschichte geschrieben zu haben. Später wiederholte er diese Behauptung, die über Jahrzehnte auch als kunsthistorisches Basiswissen galt. Dass Kandinsky und Kunstgeschichtsschreibung dabei falschlagen, zeigte sich der Öffentlichkeit 2013, als in einer großen Ausstellung im Moderna Museet von Stockholm Werke einer lange Zeit nur Spezialisten bekannten schwedischen Künstlerin vorgestellt wurden. Es war die 1862 in eine adlige Familie geborene Hilma af Klint, die als eine der ersten Studentinnen an der Kunstakademie in Stockholm die klassische Malerei erlernt hatte und mit ihren Porträts, Landschaften und Stillleben auch finanziell durchaus erfolgreich war.
Doch schon 1906 begann sie auch mit abstrakten Arbeiten. Und wie viele andere Intellektuelle und Kunstaffine der Zeit (darunter auch Kandinsky) huldigte af Klint im Leben und in der Kunst esoterischen Lehren und sah sich als ausführendes Medium spiritueller Kräfte. Im Film beschreibt die Kunsthistorikerin Julia Voss diese theosophische Geheimlehre, der af Klint folgte, als eine alternative »Befreiungstheologie« für Frauen, die dort Selbstermächtigung und Gemeinschaft finden konnten. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer ergänzt, dass die Esoterik auch eine Möglichkeit der Integration künstlerischer Fragestellungen mit den revolutionären physikalischen Entdeckungen der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende bot. Das schlägt sich in Titeln wie »Quantentheorie« und flirrenden Strahlenkreisen und geometrischen Reduktionen in den Bildern nieder. Das Nicht-Sichtbare sichtbar machen.
Die Berliner Regisseurin Halina Dyrschka war von Werk und Person Klints so fasziniert, dass sie fast fünf Jahre dazu recherchierte. In ihrem zurückhaltend persönlich kommentierten Dokumentarfilm gibt sie dem Werk selbst großen Raum, inklusive einem reichhaltigen Schaffen an Skizzen und Tagebuchnotizen. Dazu lässt sie kurze Spielszenen, Dokumente und Personen aus dem wissenschaftlichen und persönlichen Umfeld der Künstlerin sprechen, Kuratorinnen und Kunsthistorikerinnen, den Künstlerkollegen Josiah McElheny und Verwandte.
Af Klints Arbeiten zeigen ein breites künstlerisches Spektrum, das sich um organisch inspirierte farbenfrohe Riesentafeln als Alleinstellungsmerkmal bündelt. In einer schönen Sequenz stellt der Film eine Reihe von af Klints anderen Arbeiten sehr ähnlichen (später realisierten) von Malewitsch, Paul Klee oder Cy Twombly gegenüber. Bemerkenswert, dass af Klint – anders als andere verkannte Künstlerinnen – selbst ihr Werk in späteren Jahren aus der Öffentlichkeit fernhielt, um es höherer kosmischer Bestimmung zu widmen. Doch auch in der Ausstellung »Inventing Abstraction 1910-25« im MOMA 2013 kam ihre Position nicht vor. Sonst hätte das Museum das selbst über Jahrzehnte propagierte beengte Bild der Moderne infrage stellen müssen, sagt die feministische Sammlerin Valeria Napoleone. Der Film endet mit dem mehrstimmigen Appell, genau solche Irritationen für die Kunstgeschichte produktiv zu machen.
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