Novembersonne

Ist der Schmerz größer, wenn man einen Menschen verliert, der talentierter und schöner als alle anderen war? Oder bleibt die Trauer unbeeindruckt von der Bewunderung, die dem Gestorbenen allerorten zuflog? Das wäre viel verlangt, denn dann wäre sie abstrakt, aber wohl auch gerechter. Der Gérard Philipe allerdings, den seine Witwe Anne betrauert, gehört nicht der Welt, sondern nur ihr. Es kommt ihr nicht in den Sinn, dass sie das Lächeln, das er unbekümmert, großzügig und aufmerksam verschenkte, mit dem Publikum teilen musste.

Sein Name fällt kein einziges Mal in dem Buch, das ich gerade gelesen habe, weil sich sein Todestag heute zum sechzigsten Mal jährt. Als seine Witwe »Nur einen Seufzer lang« 1963 in Frankreich veröffentlichte, wusste selbstverständlich noch alle Welt, wer gemeint war. Sein Stern strahlte auf Leinwand und Bühne viel zu hell, um so schnell zu erlöschen. Aber über den Darsteller des Cid, des Prinzen vom Homburg, des Fanfan, Julien Sorel oder des jungen Liebenden aus »Teufel im Leib« ist in Anne Philipes Memoir nichts zu erfahren. Seine Arbeit spielt eine Rolle, die sich ganz der des Gefährten und Ehemannes unterordnet. Das ist ein Pakt, den der Leser akzeptieren muss. Damals waren viele dazu bereit: Das Buch verkaufte sich gut, als es 1964 bei Rowohlt erschien, und im Jahr darauf als Lizenzausgabe im Verlag Volk und Welt in der DDR. Vor zwei Jahren wurde es bei ebersbach & simon neu aufgelegt; nun mit dem Untertitel »Geschichte einer Liebe«. Das Exemplar, das ich gelesen habe, stammt aus der bereits zweiten Auflage, die Volk und Welt 1966 drucken ließ. Man kann dieses Buch schnell lesen, es umfasst 130 Seiten, und viel Zeit mit ihm verbringen.

Es hat eine schöne Bewandtnis damit, wie ich zu ihm kam. Vor ein paar Monaten schlug mir eine Bekannte vor, zum 60. Todestag des Schauspielers eine Radiosendung zu machen. Beim Sender stieß diese Idee auf wenig Interesse. Das ist schon insofern schade, als ich viele historische Aufnahmen seiner Bühnenauftritte habe und mir Philippe Noiret, der oft mit ihm in Paris, Aix und anderswo spielte, in einem Interview einmal eindrücklich von der Unberechenbarkeit seines Bühnenpartners erzählt hatte: Bei ihm konnte man nie sicher sein, von welcher Seite er die Bühne betreten würde; er sei auch in höchst unterschiedlicher Form gewesen, mal erstaunlich schlecht und dann göttlich, aber nie ausgeglichen, denn das sei das Privileg der Mittelmäßigen. Gleichviel, die Dame (die ich sehr schätze, aber eigentlich gar nicht so gut kenne) versprach, mir eine Ausgabe des Buches zu schicken, da sie zwei Exemplare hatte. Das andere stammte aus der DDR-Erstauflage und lag Jahrzehnte lang auf dem Nachttisch ihrer Mutter. Es nimmt nicht Wunder, dass Philipe in der DDR sehr populär war: ein engagierter, französischer Kommunist, der sogar noch besser aussah als Yves Montand. Seine einzige Regiearbeit, »Die Abenteuer des Till Ulenspiegel«, fiel zwar weniger klassenkämpferisch aus, als die DEFA sich das vorgestellt hatte, lockte aber angeblich vier Millionen Zuschauer in die ostdeutschen Kinos.

Das Buchgeschenk ist eine wunderbare Freundschaftsgeste, die noch der Erwiderung harrt. Ihm haftet etwas Vertrauliches an (Weshalb ließ die Mutter es nicht von ihrer Seite, spendete es ihr Trost, Lebensenergie oder gar Zuversicht?), was freilich zur Intimität dieser Lektüre passt. Das Buch ist an den ungenannten Gérard adressiert, ein Brief aus dem Diesseits, eine so taktvolle wie furchtlose Indiskretion. Als Reiseschriftstellerin war Anne Philipe wohl mit Gefahren vertraut. Sie fasst einen Schmerz in Worte, der ihr zunächst lebenslang erscheint. Sie legt Rechenschaft ab, über das, was geschah und wie sie es empfand. Die Liebe macht sie blind, und sie macht sie hellsichtig. Sie springt in den Zeiten hin und her; es verstrichen nur drei Wochen zwischen der Operation, der niederschmetternd endgültigen Diagnose und dem Krebstod. Sie will begreifen, wie es sein kann, dass plötzlich das »Nie wieder« vor ihrer Tür steht, versucht immer wieder neu zu bestimmen, was ihre Liebe und ihr gemeinsames Glück ausmachte. Denn ihre Ehe war eine Verschwörung, glücklich zu sein, übrigens voller Idealismus: "Vielleicht durften wir gar mithelfen, eine bessere Welt aufzubauen."

Gérard Phlipe war blutjung, als er starb, gerade einmal 36 Jahre alt. Sie beschwört nicht, was er noch alles an Versprechen in sich barg, als Schauspieler, Ehemann, Vater und Zivilbürger. Sie hält fest an dem Unwiederbringlichen. Es wird lebendig in ihrer Prosa, die zwar klug und gewandt, aber kein Filter der Emotionen ist. Sie schafft keine Distanz. Vielmehr hat sie das Gegenteil im Sinn, die Vergegenwärtigung. Dieser Impuls ist unerbittlich; er lässt ihre Sprache sinnlich werden. Sofort hat man Bilder von ihm vor Augen, wie er abgemagert ist und geschwächt von der Operation und der unaufhaltsamen Krankheit; wie er verlangt, dass sein Stuhl zum Fenster geschoben wird, damit er die letzten Sonnenstrahlen des November genießen kann. Unvermittelt ist von Schulden die Rede, die sich offenbar angehäuft haben. Ein Star wie er hat bestimmt prächtige Gagen erhalten, aber ihre Existenz ist prekärer, als man vermutet hätte. Nach der Operation war er noch voller Zuversicht, im März wieder arbeiten zu können. Ich glaube, das Buch war für den Prix Goncourt in der Sparte Roman nominiert. Aber die Möglichkeit der Fiktion steht nie im Raum. In gewisser Weise ist »Nur einen Seufzer lang« der sentimentale Vorläufer von Joan Didions »Jahr des magischen Denkens«.

Philipe schreibt meist im Präsens, denn der Imperfekt ist die Zeitform des Todes und der professionellen Nachrufverfasser. Die Gedächtnisräume, die sie eröffnet, greifen weit aus. Sie ist zuweilen in der Lage, aus ihrer Situation herauszutreten. Sie sieht anderes Leid in der Welt. Ihrer Trauer wird sie dabei nicht untreu. Jedoch haben ihre zwei Kinder kaum Platz in ihrem Memoir. Das hat mich ziemlich erschüttert und an »The Tree« von Julie Bertucelli denken lassen, wo die trauernde Witwe Charlotte Gainsbourg aus ihrer Mutterrolle desertiert und vorerst keine Stütze ist. Anne Philipes Trauer ist egozentrisch, sie muss sich erst ins Gedächtnis rufen, dass nicht nur sie allein das "Nie wieder" begreifen lernen muss. Das geschieht im letzten Drittel des Buches. Noch eine andere Erkenntnis tritt allmählich auf den Plan. Irgendwann kann sie sich fast vorstellen, gerettet zu werden. Später, auf Seite 107, schreibt sie: "Ich wollte auf die Ereignisse wieder Einfluss nehmen." Und kurz darauf: "Ich begriff, dass mir wieder gewährt war, die Schönheit zu sehen." Fürwahr, es ist gut, ein solches Buch auf seinem Nachttisch zu haben.

 

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