Ein Phantomfestival
Mit den Entscheidungen der Jury kann man leben. Der Große Preis, den sie vergeben hat, ist auf der Höhe der Zeit. Auch beim besten Drehbuch lag sie nicht verkehrt. Über die Darstellerpreise (bei beiden Geschlechtern ex-aecquo, was ja meist Indiz von Unentschlossenheit ist) hingegen lässt sich streiten. Am Preis für technische Innovation führte ohnehin kein Weg vorbei. Aber wer nur soll die Auszeichnungen entgegen nehmen?
Die Träger der Preise, die am vergangenen Wochenende von Jurypräsident Amos Gitai und seinen Kolleginnen (darunter Pascale Ferran und Lázló Nemes) verkündet wurden, sind allesamt tot - seit Jahrzehnten bereits. In Orléans wurde nachträglich das erste Festival von Cannes ausgerichtet, das 1939 wegen des Einmarschs der Wehrmacht in Polen annulliert werden musste. Das Wettbewerbsprogramm wurde von einem Historikergremium rekonstruiert, nur einer der 30 damals eingeladenen Langfilme fehlte. Ein Spiel mit Karten, die bereits vor 80 Jahren gemischt worden waren.
Eine solche Veranstaltung kann man selbstverständlich nur in Anführungszeichen durchführen. Der Zeremonienmeister der Gala fuhr in einem Ford Baujahr 1936 vor, und ein Ball in zeitgenössischen Kostümen fand auch statt. Ironie wäre jedoch fehl am Platze gewesen. Dafür ist die Geschichte zu ernst. Die Eröffnung hätte am 1. September in Cannes stattfinden sollen, aber die Historie vereitelte sie. Das Festival war als demokratisches Gegengewicht zur Mostra in Venedig gedacht, die seinerzeit ganz unter der Fuchtel des Mussolini-Regimes stand und notorisch Filme auszeichnete, für die Joseph Goebbels grünes Licht gegeben hatte. Cannes 1939 sollte ein „Festival der freien Nationen“ werden.
Dieser Anspruch hätte sich nur unter Vorbehalt erfüllen lassen: Er fand sich in einer sterbenden Epoche wieder. Eines der teilnehmenden Länder existierte zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr (die Tschechoslowakei war vom Dritten Reich annektiert worden) und Produktionen aus der Sowjetunion wurde seinerzeit die kommerzielle Auswertung in Frankreich verwehrt. Jedoch bestritt sie das, nach Frankreich und den USA, größte Kontingent im Festivalprogramm. Amerika war der wichtigste Partner von Cannes 1939, der prophetische Auftakt einer in der Folge überaus wechselhaften Beziehung. Es traf sich prächtig, dass Hollywood gerade eines seiner Wunderjahre erlebte und mithin den Wettbewerb dominierte.
Dass diese Rekonstruktion in Orléans ausgerichtet wurde, hat nichts mit der heiligen Johanna zu tun (obwohl sie eine treffliche Patin dieses Fests abgegeben hätte, das sich auflehnt gegen den Lauf der Geschichte), sondern ist dem Umstand geschuldet, dass einer der Erfinder des Festivals dort geboren wurde: Jean Zay. Der Beitrag des ehemaligen Kulturministers der Volksfrontregierung und glühenden Antifaschisten wird in der Geschichtsschreibung des Festivals zuweilen unterschlagen. Er hätte ihm zweifellos nach dem Krieg noch entscheidende Impulse gegeben, wäre er nicht 1944 von einer Vichy-Miliz ermordet worden. Die Wiederherstellung des historischen Ereignisses war, nach der Überführung seiner Gebeine ins Pantheon 2015, ein zweiter Akt der Rehabilitation eines sehr Vergessenen. Seine zwei Töchtern verfolgten dies mit Genugtuung; sie gehörten ebenfalls der Jury an.
Die aktuelle Festivalleitung von Cannes machte derweil böse Miene zum guten Spiel: Thierry Frémaux beklagte sich, dass man nicht um Mitwirkung gefragt worden sei und erinnerte pikiert daran, dass er vor Jahren an der Croisette schon eine Mini-Retro zum verhinderten Eröffnungsjahr sowie eine Hommage an Zay veranstaltet habe. Sein Ziehvater Bertrand Tavernier, der unermüdliche Fürsprecher einer französischen Filmtradition, der die Nouvelle Vague den Garaus machen wollte, ließ es sich nicht nehmen, nach Orléans zu kommen. Angeblich war auch Dieter Kosslick eingeladen, der wahrscheinlich nie zuvor die Gelegenheit gesucht hat, so viele Schwarzweißfilme am Stück zu sehen.
Die Veranstalter legten offenbar Wert darauf, die Nostalgie sehr heutig aussehen zu lassen. Im Rahmenprogramm traten zahlreiche illustre Filmpersönlichkeiten auf, einige Jurymitglieder gaben eine Masterclass, zwei Überraschungsfilme waren angekündigt, die Website ist voller Elan gestaltet (https://www.festivalcannes1939.com) und mit dem Plakat ließe sich auch ein aktueller Cannes-Jahrgang bewerben; wenngleich vor der #MeToo-Ära. Ich weiß nicht, wie der Publikumszuspruch war, aber wiederholen lässt sich das Ganze ja ohnehin nicht.
Den Kriterien eines modernen Festivals hätte Cannes im Jahr 1939 durchaus erfüllt: Einen Wettbewerb zu gestalten, bedeutet ja auch, eine Weltanschauung anzubieten. Seinerzeit wurden Festivalbeiträge allerdings noch nicht von Kuratoren ausgewählt, sondern von den teilnehmenden Ländern eingereicht. Die besseren französischen Filme („Der Tag bricht an“ von Carné und Prévert, „La fin du jour“ von Duvivier) waren leider schon für Venedig vorgesehen. Ansonsten bildet die Auswahl jedoch die Produktion der damals führenden Kinematographien hinreichend diplomatisch ab. Hollywood konnte in diesem Jahr prunken, etwa mit Hawks' „Only Angels have wings“ oder der ersten Version von „Love Affair“. (Lubitsch' „Ninotschka“ sollte nicht laufen, das hätte ohne Zweifel eine Ohrfeige für die sowjetische Delegation bedeutet.) Die Niederlande waren mit einem Exil-Film von Douglas Sirk vertreten, Osteuropa war gut abgedeckt; Schweden enttäuschte wohl, wie ich einem Festivalbericht in „Le Monde“ entnahm. Das sowjetische Kino präsentierte sich in angemessener Widersprüchlichkeit; Eisensteins „Alexander Newsky“ musste außer Konkurrenz laufen.
Bei der Preisverleihung befolgte die Internationale Jury das Gießkannenprinzip. Andererseits hätte es sie sich auch leichter machen können: Gitai & Co gingen tatsächlich ernsthaft an ihre kuriose Aufgabe heran. Der Drehbuchpreis für Garson Kanin („Bachelor Mother“) ist wirklich hübsch. Und die Farbdramaturgie von „Der Zauberer von Oz“ war damals in der Tat innovativ. Als Besten Hauptdarsteller hätte ich allerdings die einmalige Chance genutzt, den ewig unterschätzten Cary Grant auszuzeichnen; aber der lässt das Spielen einfach zu leicht aussehen (im Zweifelsfall hätte mir auch Charles Boyer genügt). Irene Dunne ist eine prächtige Wahl als Beste Hauptdarstellerin (ihre russische Kollegin aus der bestimmt munteren Kolchosen-Musikkomödie kenne ich nicht). Die „besondere historische Erwähnung“ für den tschechischen Film von Hugo Haas hat noble Relevanz. Den Publikumspreis für „Union Pacific“ von Cecil B. DeMille hätten wohl auch damals die ZuschauerInnen vergeben. Der große Sieger des Abends war „Mr. Smith geht nach Washington“, der den Darstellerpreis für James Stewart, den Preis der Gymnasiasten-Jury und schließlich den Großen Preis erhielt. Obwohl ich nicht der größte Bewunderer des „bon docteur Capra“ (wie Truffaut ihn nannte) bin, überzeugt mich die Begründung der Jury. Sie ist eine kluge Aktualitätsbeschwörung. Dies sei der einzige Film, erklärte Amos Gitai, der von der Gegenwart erzähle, von der Krise der Demokratie und der manipulierenden Macht der Medien.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns