Die Erste
Sie hat sie fast alle gekriegt, meist vor die Kamera oder, wenn sie schon tot waren, befragte sie Zeitzeugen und Weggefährten. Der Anfang des Satzes mag salopp klingen, aber er meint eine enorme Leistung, die einhergeht mit einem enormen Bedauern. Denn so viele Filmemacherinnen gab es noch nicht, als Katja Raganelli in den 1970er Jahren anfing, sie ausdauernd und systematisch zu porträtieren. Einige waren bereits vergessen, andere wurden schlicht ignoriert.
Als hoffnungsvolle Absolventin der Filmhochschule München hat die Regisseurin hautnah erlebt, wie schwer es Frauen in diesem Metier gemacht wurde. Aber wie Diane Kurys (über die sie ausnahmsweise nicht gearbeitet hat) einmal sagte: Selbst Filme zu machen, ist die beste Vergeltungsmaßnahme. Der Großteil der Dokumentationen von Katja Raganelli ist mir seinerzeit entgangen, was ich besonders im Fall von Màrta Mészaròs, Delphine Seyrig und Mai Zetterling bedaure, ihren Film über die Frühzeit Hollywoods würde ich auch gern sehen. Aber einige sind mir lebhaft im Gedächtnis geblieben, beispielsweise die über Joan Micklin Silver und Agnès Varda. Seinerzeit, das war die selige Epoche, als sich das ZDF noch ein „Filmforum“ gönnte. Und das war ein echtes Forum. Raganellis Filme sind Begegnungen, die oft während Dreharbeiten stattfanden.
Im Filmmuseum München laufen sie ab morgen, immer Mittwochsabends, bis kurz vor Weihnachten, immer zusammen mit einer Arbeit der jeweiligen Regisseurin. Raganelli ist bei jeder Vorführung anwesend, einmal leistet ihr eine Porträtierte Gesellschaft, Margarethe von Trotta. Den Anfang macht die erste Filmemacherin überhaupt, Alice Guy-Blaché, von der einige französische und amerikanische Kurzfilme laufen (die zugleich den Abschluss der Stummfilmtage im Filmmuseum bilden). Guy war eine echte Pionierin. Das schreibt sich so leicht hin, aber im Fall eines neuen Mediums, dessen Zukunft ganz ungewiss war (Louis Lumière war überzeugt, es habe keine), braucht es besonderen Mut, darauf zu setzen. Und am Anfang war noch alles Experiment, auch wenn es heutigen Augen archaisch und konventionell erscheint. Die Beweglichkeit der Kamera, die Großaufnahme, das Nachkolorieren der Bilder, das Drehen an Außenschauplätzen mussten erst erstritten werden. Und die Geschlechterrollen waren zwar in der Gesellschaft festgeschrieben, aber auf der Leinwand nicht unumstößlich.
Zu Alice Guys Lebzeiten waren nur noch drei ihrer angeblich 1000 Filme erhalten. Den ersten drehte sie schon 1896, hatte danach gleich zwei glanzvolle Karrieren, eine dritte verhinderten die Wandlungen des Filmgeschäfts in den 1920ern. Bei Gaumont, dem ersten französischen Filmkonzern, fing sie als Sekretärin an. ES brauchte einige Überzeugungsarbeit, bis Léon Gaumont bereit war, ihr eine Kamera in die Hand zu geben. Er fand ihren Wunsch kindisch, töricht und bestand darauf, dass sie nach ihren Bürostunden drehte. So entstand „La Fée au choux“, den sie mit ihren Freundinnen machte, eine verspielte, beinahe schlüpfrige Pantomime. Bald avancierte Guy zu seiner Produktionschefin, überwachte Hunderte von Filmen. Von ihren eigenen Gaumont-Filmen sind heute rund 100 überliefert, anfangs filmte sie kurze Sketche, später Märchenfilme und phantasievolle Alltagsgeschichten. Von den frühen Arbeiten, die in München zu sehen sind, mag ich besonders »Madame a ses envies« über die merkwürdigen Gelüste einer Schwangeren. Die Darstellerin hat ein Kissen um den Bauch geschnallt, zuerst stibitzt sie einem kleinen Mädchen ihren Lutscher, dann einem Mann dessen Absinth; die Zigarre des Straßenhändlers verträgt sie nicht so gut. »Le Conséquenses du féminisme« ist nicht weniger gewitzt, da drehen sich die Geschlechterverhältnisse um, müssen die Männer die Hausarbeit erledigen und sich um die Kinder kümmern, während die Frauen im Club feiern.
Nach ihrer Heirat mit Herbert Blaché und der Geburt ihres ersten Kindes ging Guy in die USA (ihre Nachfolge als Produktionschef trat Louis Feillade an, den sie protegiert hatte), um dort für Gaumont neue Geschäftszweige zu entwickeln. Das Filmgeschäft war damals noch an der Ostküste ansässig, sie ließ 1912 ein Studio in Fort Lee, New Jersey, errichten und gründete ihre eigene Produktionsfirma, Solax. Im Filmmuseum läuft »Matrimony's Speed Limit«, ein rasantes Wettrennen um ein Erbe und das Liebesglück, ein richtig amerikanisches chase movie, eine Parallelmontage der Hindernisse, Missverständnisse und um Haaresbreite verpassten Chancen. »Falling Leaves« kenne ich nicht, Michael Omasta mag ihn sehr, er beschreibt ihn anlässlich einer Guy-Blaché-Retro in Wien vor drei Jahren als ein herzzerreißendes Melodram um zwei Schwestern, von denen die eine an Schwindsucht erkrankt und die andere erfindungsreich (die Geschichte mit dem welkenden Herbstlaub muss toll sein) um deren Genesung kämpft. Die damalige Reihe wurde von der Kinothek Asta Nielsen organisiert, die sich seit Langem um die Rehabilitation von Filmpionierinnen verdient macht.
Tatsächlich wird Guy-Blaché allerorten wiederentdeckt. In Frankreich hat Gaumont ihre frühen Filme in einer DVD-Box herausgebracht und in den USA sind einige ihrer Solax-Produktionen in diversen Editionen über Filmpionierinnen erschienen (Ländercode beachten!). Mittlerweile gibt es mindestens zwei weitere Dokumentationen über sie, eine etwas treuherzige kanadische, die in der Gaumont-Box enthalten ist (sie trägt den schönen Titel »Le jardin oublié«, der vergessene Garten) sowie eine amerikanische von Pamela B. Green, die im letzten Jahr auf diversen Festivals Furore machte. Ihren Titel verdankt sie der Aufforderung an ihre Darsteller, die Guy-Blaché im Studio in Fort Lee aufhängen ließ: »Be Natural«. Der Titel lautet weiter: »The Untold Story of Alice Guy-Blaché«. Im Filmmuseum kann man feststellen, dass er nicht ganz stimmt: Katja Raganelli, deren Werk ungekannte Traditionslinien in der Kinogeschichte aufzeigt, hat sie schon einmal erzählt.
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