Die Kamera: eine Liebesmaschine
Ich habe meine Zweifel, ob sein Romantizismus den Studios immer ganz geheuer war. Obwohl seine Liebesszenen in aller Regel keusch sind, eignet ihnen eine Intimität, die zu radikal ist, um ganz gedeckt zu sein durch die Konventionen des Melodrams. Ihre Sinnlichkeit schürft tiefer. Die Liebesergriffenheit ist weltstürzend bei Frank Borzage, sie bricht brüsk herein. Kaum je hat sie Zeit zu reifen; Vergangenheit und Zukunft müssen im Jetzt verschmelzen.
Und dann überschreitet sie auch noch die Schwelle zur Transzendenz; allzu rasch und zu oft vielleicht. Gewiss, die Pietät bleibt gewahrt. Mehr noch, die Liebe bedeutet für ihn ein Einssein mit Gott. Aber was für ein Leitbild ist sie für das Publikum, wenn sie sich erst im Tod erfüllt? Sollte sie, wenn sie tief und aufrichtig ist, nicht mit Lebensglück belohnt werden? Bei »A Farewell to Arms« ließ Paramount den amerikanischen Kinobesitzern die Wahl zwischen zwei Fassungen, die eine mit Happy End, die andere mit tragischem Ausgang. In Europa lief selbstverständlich die zweite Variante. Auch die Zensoren stellte dieser Film vor massive Probleme. Für die Liebe brauchen Borzages Paare keinen Trauschein und die Frauen dürfen schwanger werden; der Regisseur war sich ihrer höheren Bestimmung stets gewiss. Die Manier, in der er Frauenbeine filmt, würde man bei einem anderen Filmemacher schlüpfrig finden.
Die Retrospektive des Arsenal zeigt Borzage gewissermaßen in Reinform. Sie zeigt keine der Auftragsarbeiten, die er natürlich auch zahlreich drehte. Neben dem Melodram sind zwar weitere seiner Facetten repräsentiert, eine Komödie, ein Stück Americana, frühe Western. (Auch der Erzählton der einzelnen Filme ist ja nicht einhellig. Die Arbeitsverhältnisse in »Little Man, what now?« etwa haben Züge des wehmütigen Slapstick.) Aber der Blick bleibt dennoch konzentriert auf das, was Borzage einzigartig macht. Der Vergleich mit John M. Stahl, dem anderen großen Melodramen-Regisseur des frühen Tonfilms, ist hier aufschlussreich. Während dieser einen zurückgenommen lyrischen Stil pflegte, stecken Borzages Filme voller beherzter Symbole und märchenhafter Motive. Die erhabene Anschaulichkeit des Stummfilms überträgt er hierbei kühn ins realistischere Tonfilmzeitalter: Man nimmt es hin, wie der Himmelszug ins Sterbezimmer Lilioms einfährt. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wer den Illusionen mehr glaubt, der Regisseur oder seine Figuren? Heutigen Zuschauern fallen natürlich sofort die vielen Modelle von Automobilen, Zügen und Stadtszenerien auf, die er in Totalen einsetzt. Eine Spielzeugwelt.
Die Kindlichkeit seiner Charaktere mag für heutige Sehgewohnheiten manches Problem aufwerfen. Ihr eignet etwas Hysterisches. Aber seinem Blick auf sie fehlt jedwede gönnerhafte Attitüde. Man darf mit der Zeichnung der arglosen Prahlhänse hadern, die Charles Farrell für ihn spielt. Der unfassliche Optimismus, mit dem Tim in »Lucky Star« sein Leben nach der Kriegsverletzung in Angriff nimmt, ist gleichwohl berückend. Er will der schnellste, agilste, der autarkste Rollstuhlfahrer aller Zeiten werden. Sein Schicksal nimmt er als einen Neuanfang: "Never thought much about broken things until I got smashed myself." Wie viel Verdrängung bei so etwas im Spiel ist - darüber mag Borzage kein Urteil fällen. Für ihn bedeutet es eine Rückgewinnung der Unschuld. Die Liebe zu dem Wildfang Gaynor will erst einmal Kameradschaft sein und vollzieht sich als ein Herantasten, ein Austesten, was gestisch möglich und noch schicklich ist. Er shampooniert ihre Haare mit einem Ei, will sie ohnehin zu Reinlichkeit erziehen. Borzage zieht hier putzige puritanische Register. Farrell muss erst darauf gestoßen werden, dass Gaynor nun schon 18 ist und den Körper einer Frau hat.
»The River« stellt ein willkommenes Gegengift zu so viel Treuherzigkeit und Schamhaftigkeit dar. Hier findet er in Mary Duncan eine abgeklärte Gegenspielerin, die sehr sexy in ihrer Verächtlichkeit ist. Sie scheint seiner erotischen Ahnungslosigkeit rasch überdrüssig zu werden, wird aber zugleich von seiner Naivität verlockt. (Nun ja, zweifellos auch von seinem entblößten Körper, den Borzage mit einem Nachdruck in Szene setzt, der einige Jahre später, mit Einführung des Production Code, undenkbar wäre.) Aus ihrer Sicht ist das gewiss eine Komödie der vergeudeten Zeit. Aber Borzage begreift das Aufeinandertreffen von Unschuld und Erfahrung als einen heilsamen Prozess. Denn ihn interessiert nicht vordergründig die sexuelle Initiation des Kindmannes (wenngleich der deutsche Verleihtitel dies seinerzeit versprach: "Die erste Frau im Leben"), sondern das spirituelle Erwachen in Form einer unbefangenen Kommunion der Körper.
Ich glaube nicht, dass die Liebe für seine Charaktere eine Läuterung bedeutet, wenngleich sie selbst sich gern der Verdorbenheit oder Frivolität bezichtigen, die in der romantischen Begegnung überwunden werden können. In ihrem Aufblitzen erkennen sie ihr eigentliches Wesen. Andererseits, was soll man mit dem ersten Auftritt von Clark Gable in »Strange Cargo« anfangen, als er aus der Einzelhaft entlassen wird. Borzage filmt ihn als tiefschwarze Silhouette, nur auf die Augen fällt Licht, sodass sie glühen wie die eines Raubtieres. Dieser Moment ist ein inszenatorischer Solitär, der erste Stolperstein in einem rätselhaften Film, der von erbarmungsloser Natur und göttlicher Barmherzigkeit handelt. Ein Gegenstück findet das Raubtierglühen immerhin im Antlitz Ian Hunters, dessen Züge von göttlicher Helligkeit erleuchtet sind.
Das gibt es immer wieder in seinen Filmen: dass die Inszenierung die Oberfläche des Genres aufraut. Sie irritiert, wenn etwa Coopers Einlieferung ins Hospital ganz in einer subjektiven Einstellung gedreht ist, die in der bizarren Großaufnahme der ihn küssenden Helen Hayes mündet. Liebesszenen gewinnen bei ihm oft eine merkwürdige Anmut, im Spannungsfeld von Horizontaler und Vertikaler, oder im kühnen Anschnitt der Gesichter. Intimität bedeutet, dass die Welt aus den Angeln gehoben wird.
Ganz so ausschließlich, wie ich im vorangegangenen Eintrag schrieb, ist die Liebe bei Borzage übrigens auch nicht. Dank der ungeheuer breiten, tiefen Fenster, welche die Dekors in »Street Angel« und »Lucky Star« dominieren, können die Sphären des Innen und Außen miteinander kommunizieren. Sie öffnen den Blick in die Welt. Die Liebe ist für Borzage eine Bereitschaft, die nicht vollends eindeutig sein muss. Fast könnte man Franchot Tone, den Mentor des Paares in »Three Comrades« für den eigentlichen Liebende halten, der viel umsichtiger um Margaret Sullavan wirbt als Robert Taylor. Joan Crwaford entwickelt in »Strange Cargo« eine gestische Vertrautheit auch zu Ian Hunter. Die berührendste, heroischste Figur in »Liliom« ist eigentlich der Tischler, der sich von Rose Hobart jedes Mal eine Abfuhr holt, aber auch nach zehn Jahren immer noch bei ihr vorspricht und auf die nächste Woche vertrösten lässt. Mich berührt sie jedenfalls mehr als der großspurige Titelheld, und ich denke nicht, dass ich Borzage da gründlich missverstanden habe.
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