Das Auge der Zeit
Wenn in der Betreffzeile ihrer Mails als erstes Wort "Hommage" steht, mache ich immer auf einen Schrecken gefasst. Die französische Filmakademie ist oft der erste Überbringer trauriger Nachrichten. Am Freitagabend meldete sie den Tod des Kameramannes Pierre Lhomme. Siebenmal war er seit 1976 für einen César nominiert worden; 1989 gewann er ihn zum ersten Mal für »Camille Claudel« und zwei Jahre später für »Cyrano de Bergerac«.
Es war ein ein Segen, dass die Nachricht erst abends kam, denn am Morgen hatte ich ihn noch gesehen: als Zeitzeugen im Bonusmaterial zweier DVD-Fassungen von »Armee im Schatten«. Eigentlich hielt ich Ausschau nach ganz anderen Interviewausschnitten (ich bereite eine Radiosendung über Lino Ventura vor, der in einer Woche 100 Jahre alt geworden wäre), aber ich blieb an seinen Lippen hängen. Er sah aus wie einer, der in seinem Leben zu viele Zigaretten geraucht hat, es aber nicht bereut. Und Lhomme wusste so viel Interessantes zu berichten. Das Résistance-Drama besaß enorme Bedeutung für ihn. Er hatte zuvor gerade die Restaurierung überwacht und erzählte nun gelassen, fast amüsiert, vom Tumult der Dreharbeiten mit Jean-Pierre Melville. Der machte jedem im Team das Leben zur Hölle, vor allem seinem Star. Pierre Lhomme berichtete, wie souverän er Ventura dennoch erlebt habe. "Un Lino impériale" sei er gewesen, schlicht majestätisch.
Mit konfliktreichen Dreharbeiten kannte Lhomme sich aus. Als er 1973 zum ersten Mal Jean Eustache traf, warnte ihn der Regisseur, dass für »Die Mama und die Hure« nur ein minimales Budget und ein winziges Team zur Verfügung stünde und der Drehplan knapp bemessen sei. "Das größte Problem ist jedoch", weihte ihn Eustache ein, "dass es bei meinen Dreharbeiten immer einen Selbstmord gibt. Beim letzten Film war es ein Kameraassistent." Die Spannungen auf dem Set, zumal in Eustache' eigener Wohnung, waren heftig. Wenn Lhomme morgens zum Drehort kam, lag noch eine aufgeladene Atmosphäre in der Luft. Die gegenseitige Zerfleischung hatte nicht aufgehört, nachdem die Kamera ausgeschaltet war. In manchen Szenen sieht man ihnen die schlaflosen Nächte noch an, tiefe Ringe liegen unter ihren Augen: eine Ermattung, die nicht nur zur Rolle gehört. (Einen Selbstmord gab es auch: Die Kostümbildnerin und ehemalige Geliebte von Eustache brachte sich gleich nach der Premiere um.). Lhommes ruhig konfrontative Schwarzweißfotografie macht »Die Mama und die Hure« zur schönsten Innenansicht der Pariser Bohème nach dem Mai 68: ein atmosphärisches Zeugnis, ein karger, klaustrophobischer Abenteuerfilm der Körper und Worte. Die zerwühlte Matratzenlandschaft, die Léaud, Bernadette Lafont und Françoise Lebrun als Refugium wie Schlachtfeld dient, ist ein emblematisches Bild geworden.
Wie empfindsam er ein Zeitklima einzufangen verstand, bewies er schon 1962 in »Der schöne Mai«, wo er auch als Co-Regisseur von Chris. Marker fungierte. Sie betreiben dokumentarische Feldforschung über das Lebensgefühl der Pariser im "ersten Frühling nach dem Krieg" (dem in Algerien). Der Film hat einen schönen Rhythmus, die langen Brennweiten fangen gedrängte Urbanität ein und wechseln sich ab mit lebhaften Einzelporträts. Das grobe Korn der Schwarzweißbilder hat seine ganz eigene Poesie. "Cinéma direct" nannte man das damals. Lhomme reagiert agil und überlegt auf das, was vor seinem Objektiv passiert. Manchmal hat man das Gefühl, er und Marker hielten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer einzigen Einstellung fest.
Lhomme hatte eine ziemlich klassische Ausbildung, assistierte und schwenkte bei Studiodrehs in den 1950ern, lernte dann aber die Arbeit mit den neuen, leichteren, luftigeren Ausrüstungen schätzen, die er zeitgleich mit der Nouvelle Vague entdeckte. Eduardo Serra (»Der Mann der Friseuse«) erzählte mir einmal, was für ein Glück es war, als Assistent bei ihm anzufangen. Er hielt Lhomme für den wichtigsten Kameramann des französischen Nachkriegskinos, weil sein Werk eine so erstaunliche Bandbreite besaß - und weil er der Erste war, der natürliche Lichtquellen nutzte. Von ihm habe er gelernt, die Grenzen immer ein wenig weiter zu schieben.
Sein Ausdrucksspektrum ist in der Tat faszinierend. Jeder der sieben Filme, für die ihn die César-Akademie nominiert hat, sieht auf den ersten Blick ganz anders aus. Im Werk dieses Kameramanns finden Robert Bresson, Patrice Chéreau, Marguerite Duras, James Ivory, Claude Miller und Jean-Paul Rappeneau wie selbstverständlich zusammen. Er war vielseitig, aber nicht eklektisch. Ich denke, er wollte sich einfach keiner Richtung verweigern, die ihm reizvoll erschien. Wie sehr er bewundert wurde, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass einige Regisseure, die zuvor selbst Kameraleute gewesen waren (Bruno Nuytten, Yves Angelo), ihm vertrauten. Ivory nannte ihn das "Prachtstück" unter den französischen Bildgestaltern.
Er selbst sagte oft, erst mit »Armee im Schatten« habe er sich wirklich als Kameramann gefühlt. Nicht, dass er die Zeit vor 1969 vergeudet hätte. Aber bestimmt bedeutete er ihm so viel, weil er ihn vor die größten Herausforderungen stellte.Er hatte ständig angst, die Szenen zu Dunkel ausgeleuchtet zu haben. Bei der Vorführung der Muster beruhigte ihn Melville dann bisweilen: "Das wird schon gehen, da legen wir einfach eine Musik drüber." Der Film trägt seinen Titel ja nicht von ungefähr. (Auf den beiden DVDs sieht er allerdings auch unterschiedlich aus: Die französische scheint mir etwas aufgehellt, die deutsche kommt ihren Intentionen wohl näher.) Lhommes Photographie des Films wird oft als monochrom beschrieben, ist es aber nicht. Gewiss, das Farbspektrum ist eng (was gut zu Ventura passt). Ich hatte sie als etwas schlammiger in Erinnerung, aber Lhommes Palette geht über Grau- und Brauntöne hinaus: Er setzt zivile Kontraste zu den Uniformen der deutschen Besatzer. Ich war verblüfft, wie oft er mit Zooms arbeitet. »Armee im Schatten« behauptet jedoch nie, dass seine Ereignisse jetzt geschehen. Er wirkt sacht entrückt, ein leichter Filter liegt über den Szenerien. Erstaunlich, dass die berühmtesten Titel in Pierre Lhommes Filmographie ausgerechnet Historienfilme sind. Er hatte doch einen so genauen Blick für die Gegenwart.
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