Palastkino
Da ich als rücksichtsvoller Zigarrenraucher oft auf den Balkon ausweiche, habe ich die Nachbarschaft meines Pariser Gastgebers inzwischen ein wenig kennengelernt. Ich würde zwar nicht behaupten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite trüge sich ein Welttheater zu, das von wahrhaft überdurchschnittlichem Interesse wäre. Aber bei meinem jüngsten Besuch stellte ich fest, dass im fünften Stock des Hauses zur Linken bemerkenswerte Veränderungen stattgefunden haben.
Der Bewohner hat sich einen Beamer angeschafft und unterhält nun an jedem Abend für sich und seine Gäste mit Heimkino. Ich vermute, er ist neu eingezogen, denn das „Blow-up“-Plakat im Raum neben dem Kinosaal war mir zuvor noch nicht aufgefallen. Mein Vergnügen an diesen Vorführungen war insofern getrübt, als als die Wand zwischen seinen beiden Balkonfenstern den Blick auf die Bildmitte versperrte. Dass ich den Ton nicht hören konnte, störte mich weniger. Film ist schließlich eine visuelle Kunst.
An keinem der drei Abende, die ich als Zaungast verbrachte, gelang es mir, den jeweiligen Film zu identifizieren. Dazu fehlten mir einfach zu viele Bildinformationen. Falls bekannte Darsteller auftraten, kamen sie mir fremd vor. Immerhin konnte ich sie Genres zuordnen: Zuerst lief ein Horrorfilm, danach zwei Thriller. Ihre Stimmung teilte sich mir ansatzweise mit. Der Nachbar mochte düstere Filme. Sie kamen mir zudem merkwürdig kurz vor. Manchmal lief der Abspann schon, bevor ich das letzte Drittel meiner Zigarre erreicht hatte. (Es handelte sich nicht um Episoden von Fernsehserien, das war an der Ausführlichkeit der Credits zu erkennen.)
Mit der Zeit ärgerte es mich immer mehr, dass ich die Filme partout nicht namhaft machen konnte. Schließlich verlangte doch mein Beruf, dass ich einigermaßen den Überblick behalte. Sollte es inzwischen ein Parallelkino geben, das ganz an mir vorbeiging? Andererseits muss jemand, der sich ein „Blow-up“-Poster an die Wand hängt, nicht zwangsläufig über einen originellen Filmgeschmack verfügen. Die Überlegung, auch vertraute Filme würden mir eventuell unter diesen Sichtverhältnissen unbekannt erscheinen, konnte meine wachsenden Selbstzweifel nicht zerstreuen.
Es traf sich, dass ich tagsüber bei meinen regulären Kinobesuchen die Ankündigung eines Ereignisses sah, bei dem Filmprojektion und Architektur eine hoffentlich fruchtbarere Allianz eingehen: Vom 18. bis zum 22. April ist im Pariser Grand Palais abends und bei freiem Eintritt eine Installation von Wim Wenders zu sehen, die auf der Seite des Museums vollmundig als „monumental“ annonciert wird. Seine Filme sollen im großen Schiff des Palastes nicht auf Leinwände, sondern das prachtvolle Interieur projiziert werden. Im Trailer schlägt Wenders seinen üblichen feierlichen Ton an, gibt sich als zuversichtlicher Augenmensch: Das werde eine ganz neue Art, seine Filme zu entdecken. Der Titel der Schau, „(E)Motion“, kommt mir etwas mühelos vor, ist aber insofern triftig, als die Projektion beweglich sein soll, die Bilder verformen sich, wenn sie über das ornamentreiche Dekor geschwenkt werden. Die Beispiele, darunter die Spiegelszene aus „Paris, Texas“, sahen im Trailer angemessen verblüffend aus. Identifizieren kann man die Filmausschnitte sofort.
Auf Anhieb brachte ich den Regisseur nicht recht mit dem Belle-Epoque-Prunk des Palais' zusammen. Aber er ist ein Künstler mit ausgeprägtem Möglichkeitssinn; immerhin hat er Pina Bausch' Tanz hinaus auf die Straßen Wuppertals getragen. Und die Architektur des Grand Palais könnte hervorragend mitspielen; sie hat längst eine retrofuturistische Aura gewonnen. Welch wunderbares Bündnis sie mit der Szenographie von Filmausstellungen sie eingehen kann, erlebte ich vor ein paar Jahren in der Lumiére-Schau, die ungemein von der Atmosphäre des Ehrensaals profitierte. „(E)Motion“ wird indes keine klassische Ausstellung sein. Ich denke, man darf sie sich als eine Art skulpturaler Neuvermessung vorstellen. Bilder auf Fassaden werfen kann jeder, Wenders' Ehrgeiz geht weiter. Es soll, was auch sonst, ein immersives Erlebnis sein. Eines der Themen ist die Suche nach dem verlorenen Sinn (der Bilder, nehme ich an, schließlich ist es Wenders). Das Ganze kann ein kluges Spiel oder hübsches Experiment werden, ebenso gut aber auch nur ein monumentaler Gimmick.
Beim Sehen des Trailers hatte ich zunächst den Eindruck, der Regisseur wolle seine Filme komplett vorführen. Das war natürlich eine idiotische Vorstellung: Wer will sich schon zweieinhalb Stunden lang die unaufhörliche Verwandlung eines Films anschauen, überdies im Stehen? Tatsächlich hat er eine Montage aus seinem Werk konzipiert. Das Kino darf unter diesen Bedingungen aufhören, Narration zu sein. Geschichten lassen sich auf dieses Weise nicht erstreiten. Die Bilder sollen zum Vibrieren gebracht werden. Von Projektionsflächen kann ja nicht die Rede sein, wenn sie vom Dekor gedehnt, verzerrt und umschlungen werden. Wenders weiß dabei Henri Langlois auf seiner Seite, der überzeugt war, dass das Kino vor allem eine plastische Kunst ist. Der Kreis der Regisseure, denen man zutrauen würde, ihre eigene Arbeit derart kühn zur Disposition zu stellen, ist klein. Andererseits, was hätte Wenders zu verlieren? Das Wesen seiner Filme wird sich nicht verändern, nur ihr Anschein; ein Osterwochenende lang, das wunderreich werden könnte.
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