Nahaufnahme von Pierre Deladonchamps
Pierre Deladonchamps in »Das Familienfoto« (2018). © Alamode Film
Mit Mitte dreißig kam Pierre Deladonchamps in »Der Fremde am See« groß heraus. Er spielt gern solche körperlichen Rollen, hält sich aber auch für gediegen bürgerliche Filme offen. Wie aktuell »Das Familienfoto«
Seine Züge sind scharf geschnitten. Die Nase weist die Krümmung auf, die man gern mit Raubvögeln assoziiert, was aber wenig zu den Charakteren passt, die er verkörpert hat. In seinem Gesicht wirkt sie nicht angriffslustig, sondern edel. Sie wird von tiefen Falten flankiert. Ebenso erstaunlich, aber weniger markant sind die Falten auf seiner Stirn. Sie sind das Pendant zu den nachdenklichen Lachfalten, die sich durch die Wangen ziehen. Seine Augen leuchten dunkel. Seine Lippen sind weich, ohne dass man sie voll nennen müsste. In diesem Gesicht stellen sie das sanfte, nötige Gegengewicht dar. Zuweilen legt sich wirkliche Harmonie über seine Züge.
Sie weisen die Spuren mehrerer Lebensalter auf. Er kann sie einzeln zum Vorschein bringen, aber in manchen Momenten gelingt es ihm auch, sie zu vereinen. Mitunter wirkt sein Gesicht sogar älter als die 40 Jahre, die es erlebt hat. Das ist dann keine Frage der Schminke, sondern des Ausdrucks. Pierre Deladonchamps hat das Alter, in dem Unschuld und Erfahrung die Pole des Spiels sind, noch nicht ganz hinter sich gelassen. Es ist verblüffend, wie jung er in Das Familienfoto wirkt; erst recht nachdem man ihn gerade erst in »Sorry Angel« als reiferen, von Aids gezeichneten Schriftsteller erlebt hat.
Das Publikum hat ihn erst im zweiten Akt seiner Karriere wahrgenommen. Den ersten darf man sich als Galeerenjahre vorstellen. Nach seinem Schauspielunterricht am Cours Florent in Paris absolvierte Deladonchamps ab 2003 eine Reihe von Fernsehauftritten, die beinahe folgenlos geblieben wären. Irgendwann stand das Telefon still, er wollte den Beruf aufgeben, kehrte in seine Heimatstadt Nancy zurück und wurde Vater einer Tochter. Dann kommt aus heiterem Himmel der Anruf des Regisseurs Alain Guiraudie, der ihn in der Hauptrolle von »Der Fremde am See« besetzen will. Für sie erhält Deladonchamps 2014 den César als »jeune espoir«, als bester Nachwuchsdarsteller. Dass er in dieser Kategorie ausgezeichnet wird, ist vielleicht weniger absurd, als es auf Anhieb scheint. Er fängt natürlich nicht bei Null an, kann in der Rolle aber alles erneut auf Anfang stellen: Der junge Schwule Franck, der zum Cruising an einen See im sommerlichen Südfrankreich kommt, ist eingangs ein noch zu beschreibendes Blatt, lässlich orientierungslos, eine Chiffre der Arglosigkeit, der sich der Verlockung eines charismatischen Fremden ausliefert, von dem er bald entdeckt, dass er ein Mörder ist. Zugleich aber gibt der junge Schauspieler bereits Rhythmus und Struktur des Films vor; jede Episode beginnt unweigerlich mit Francks Ankunft an dem verhängnisvollen See. Deladonchamps beschreitet den Parcours einer riskanten Faszination, an dessen Ende eine verstörende Selbsterkenntnis steht.
Nach diesem Durchbruch ziehen sich zwei Strömungen durch seine Filmografie. Einerseits sind es Rollen, deren explizite Körperlichkeit ihn zu einer schwulen Ikone machen. In André Téchinés »Nos années folles« verkörpert er 2017 einen Deserteur im Ersten Weltkrieg, der sich der Verfolgung entzieht, indem er, von seiner Frau ermutigt, in die Rolle eines Transvestiten schlüpft. Er begibt sich mehr und mehr in einen Taumel fließender Sexualität, in dem er sich und seine Familie verlieren wird. Deladonchamps' Erscheinung wandelt sich immens in dieser Rolle: Anfangs wirkt sein Gesicht glaubwürdig und verführerisch feminin, am Schluss sind seine Züge so zerrüttet wie seine Seele.
Auch in Christoph Honorés »Sorry Angel«, den der Schauspieler als den Abschluss einer Trilogie begreift, wird der Zuschauer zum Zeugen seines körperlichen Niedergangs. Aber er ist nicht das Abbild seines Inneren. Vielmehr trotzt der Schriftsteller Jacques seiner Krankheit eine Heiterkeit und begierige Daseinsfreude ab, in der Deladonchamps eine erstaunliche Leichtigkeit entdeckt. Sie ist facettenreich, hintergründig, ein zärtliches Festhalten an der eigenen Vergangenheit und ein melancholischer Flirt mit der Gegenwart. »Sorry Angel« will kein Requiem sein.
Auf der anderen Seite hält sich Deladonchamps offen für die bürgerliche Tendenz im französischen Kino. (Er hätte gut in einen Sautet-Film gepasst.) Für den Part des Pariser Angestellten, der in Philippe Liorets »Die kanadische Reise« auf die Suche nach seinem leiblichen Vater geht, erhält er 2017 eine César-Nominierung als bester Hauptdarsteller. Auch »Das Familienfoto« hat teil an dieser gediegen-lebhaften Bürgerlichkeit, die sich mit redlichem Elan um die Versöhnung familiärer Konflikte bemüht. Als erfolgreicher Entwickler von Videospielen hat Mao es »weiter gebracht« als seine zwei Schwestern, leidet aber an einer reichlich komfortablen Zerrissenheit. Sein Mangel an romantischer Sehnsucht ist erstaunlich, ja leidlich originell im Genre der dramatischen Komödie. Stattdessen liebäugelt er unentschlossen mit Abgründen. An diese stößt Deladonchamps hingegen unwiderruflich in »Les chatouilles« (der 2018 in Cannes im Schatten von »Sorry Angel« lief), wo er einen Familienfreund von gewinnendem Auftreten verkörpert, der sich als Pädophiler entpuppt. Deladonchamps lässt es zu, dass diese Figur von außen betrachtet werden kann; als sie nach Jahrzehnten zur Rechenschaft gezogen wird, verwandelt sich das Gesicht des Schauspielers in eine Maske, deren Züge aufgedunsen wirken und in deren Augen alles Schuldbewusstsein erloschen ist.
Den ganz unterschiedlichen Figuren, denen er Ausdruck verleiht, ist gemeinsam, dass sie auf der Suche sind. Gleichviel ob nach dem Vater, ihrer sexuellen Orientierung, nach wechselnden Partnern oder dem einen, entscheidenden: Deladonchamps' Charaktere versuchen, ihrem Dasein eine sinnhafte und legitimierende Logik zu geben. Sein Körperspiel unterstreicht diesen Impuls des Aufbruchs, der zielstrebigen Bewegung. Diese führt ihn stets zur Frage nach der Verantwortung. Sie ist für Deladonchamps ein Lebensthema – er ist ein politisch engagierter Schauspieler, was seine Rollenauswahl nicht einengt –, im Kern ein familiäres Erbe. Seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater Sozialarbeiter. Als ein befreundetes Ehepaar bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, adoptieren sie dessen drei Kinder. Pierres leiblicher Bruder ist blind. Seine Aufgabe ist es von Kindesbeinen an, ihm die Welt zu beschreiben. Gibt es eine schönere, eine wehmütigere Vorbereitung für den Beruf, den er gewählt hat?
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