Sie sind wieder da
Mit der Emigration der Juden, sagt man gern, verlor das deutsche Kino ab 1933 seine Leichtigkeit und Ironie. Das ließe sich auch für andere Künste postulieren. Aber was hätte sein können, wenn sie zurückgekehrt wären? Hätten sie ihren Elan noch im Gepäck gehabt und den Verlust so wieder wettgemacht?
In Hans Karl Breslauers Verfilmung des vertrackt utopischen Romans »Die Stadt ohne Juden« von Hugo Bettauer gibt es eine Szenenfolge, die eine Antwort auf diese Fragen liefern könnte. Die Handlung spielt in den 1920er Jahren, mithin der damaligen Gegenwart eines fiktiven Österreich, das hier »Utopia« heißt und von Inflation und politischen Unruhen erschüttert wird. Weite Teile der Bevölkerung schiebt den jüdischen Mitbürgern die Schuld daran in die Schuhe. Der Kanzler der Republik legt dem Parlament ein Gesetz zu ihrer Ausweisung vor, das die überwältigende Mehrheit des Hauses findet. Sogleich beginnt der relativ glimpfliche Exodus, dessen Folgen die Republik bald zu spüren bekommt: Die Kurs der Währung fällt, die Wirtschaft bricht ein, das Land ist politisch isoliert und die Kultur verfällt: Es können keine Operetten mehr aufgeführt werden. Unterdessen kehrt der jüdische Künstler Leo Strakosch, mit ausladendem Schnurrbart hinreichend als französischer Bonvivant getarnt, zurück, um erstens seine Verlobte wiederzusehen und zweitens den politischen Wechsel zu organisieren. Mit seiner Rückkehr findet die bis dahin eher schwerfällige Satire zu einer begrüßenswerten Leichtfüßigkeit. Der Film wird entschieden verspielter, sein Witz nonchalanter und die Dramaturgie munterer. In der Republik wird alles wieder auf Anfang gestellt, mit dem einzigen Unterschied, dass in ihr nun Philosemitismus herrscht.
Der österreichische Stummfilm galt bis Ende der 1990er Jahre als verschollen. Eine seinerzeit in den Niederlanden wiederentdeckte Kopie war nur als Torso erhalten. 2015 tauchte dann auf einem Flohmarkt in Paris eine integrale Kopie auf, die das Filmarchiv Austria restauriert hat und die seit letztem Jahr mit einer von Olga Neuwirth neu komponierten Musik auf Tour geht. Am vergangenen Freitag (29.3.) wurde der Film im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des Festivals »Maerzmusik« aufgeführt. Der Publikumsandrang war groß, was nicht zuletzt am ersten Programmteil lag, in dem Josef Bierbichler und Samuel Finzi aus dem Roman von Bettauer lasen. Wiederum also die Chronik einer Vertreibung nebst Lesung, die allerdings ein ganz anderes Erlebnis war, als ich es vor zehn Tagen in meinem Eintrag »Ins Maul der Wüste« schilderte. Der Abend ließ sich holprig an. Die beiden Schauspieler erweckten erst gar nicht den Eindruck, sich sorgfältig vorbereitet zu haben. War es ihnen der Text nicht wert? Sie strauchelten gelgentlich, fanden erst allmählich in dessen Tonfall hinein, manche Passagen blieben fahrig erzählt. Ins Positive gewendet, könnte man sagen: Sie schienen den Text gerade erst zu entdecken. Er fing an, ihnen Vergnügen zu bereiten. Finzi zeigte sich als amüsierter Zuhörer seines Kollegen, der den Auftakt von Bettauers »Roman von übermorgen« interpretierte, von der Ratifizierung des Gesetzes berichtete und einen Schwerpunkt auf die Interpretation der Kanzlerrolle legte.
Diese Prosa ist in der Tat ein kleines Kabinettstück der Ironie, denn der Antisemitismus gibt sich hier als nationaler und kurios nationalstolzer Minderwertigkeitskomplex zu erkennen. Die österreichischen Arier sind der »Verstandesschärfe« und dem »Weltsinn« der Juden nicht gewachsen: »Wir können sie nicht verdauen.« Die Staatsräson gebietet, die eigene, langsame, rustikal-provinzielle Mentalität gegen so viel Überlegenheit zu schützen. Es ist ein tückisch argloses Plädoyer für die Mittelmäßigkeit, hier spricht ein ratloser Wolf im Schafspelz. Finzi vertrat bei der Lesung die Gegenposition, las zunächst aus einem Liebesbrief der Verlobten nach Paris, in dem sie den heimischen Niedergang von Kultur und Gemeinwesen beklagt. In seinen Passagen durfte Finzi zu Zuversicht finden, von der glücklichen Korrumpierung der Judenhasser künden. Er und Bierbichler traten als zwei Solisten auf, die nicht in Konkurrenz zueinander geraten mussten, aber auch nicht ganz auf Koketterie verzichten mochten.
Die Verfilmung wiederum ist keine kinematografische Glanzstunde. Einige Schauspieler haben Verve, darunter Eugen Neufeld als Kanzler und Hans Moser als schnauzbärtiger Antisemit, der am Schluss in einer caligarihaften Psychiatrie landet. Das ist wohl nicht Breslauer zu verdanken, der ein nachlässiger Regisseur war (Weshalb hat er das Ende der Einstellung nicht geschnitten, als die Verlobtendarstellerin Anna Millety nicht mehr ihren Geliebten, sondern zerstreut ihren Spielleiter anblickt?). In der Schilderung jüdischer Lebenswelten wächst der Film zuweilen über sich hinaus und der mit obzwar bescheidenem Aufwand gedrehte, morgendliche Massenexodus hat atmosphärische Kraft. Die treffliche Intrige des jüdischen Kunstmalers und die burleske Bekehrung der Antisemiten inszeniert Breslauer mit einer gewissen Trägheit, die in jedem Augenblick ahnt, worauf alles hinausläuft und sich ideologisch ohnehin auf der richtigen Seite weiß. Später hat der Regisseur sie übrigens gewechselt und trat der NSDAP bei. Diesen Opportunismus muss man nicht als ästhetisches Argument gegen seinen Film ins Feld führen, aber erklärt gewiss jene Halbherzigkeit, die ihn Bettauers Moritat letztlich sentimentalisieren lässt.
Die rund 75000 Euro für die Restaurierung, die mittels einer Crowdfunding-Kampagne aufgetrieben wurden, sind indes keineswegs verschwendet. Der Film ist inklusive seiner Rezeptionsgeschichte – die fehlenden Passagen in der niederländischen Kopie sind nicht nur Materialschäden anzulasten, sondern offenkundig auch der Zensur -, ein wichtiges, kostbares und auch lebhaftes Zeitdokument. Da im Programmheft ZDF/arte als Kooperationspartner genannt werden, werden Sie sich demnächst wohl vor dem Bildschirm davon überzeugen können. Gern würde ich, davon verrät das Programmheft nichts, noch erfahren, wer der geheimnisvolle Filmsammler ist, dem der sagenhafte Fund auf dem Pariser Flohmarkt gelang und wie dieser zum Filmarchiv Austria kam.
Selbstredend wird nun vorrangig das staunenswerte prophetische Potenzial von »Die Stadt ohne Juden« gepriesen. Aber ich denke, als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas seiner Epoche ist er noch aufschlussreicher. Er nennt den Antisemitismus beim Namen, der in einem Wien grassierte, das wir noch arglos bildungsbürgerlich mit Freud, Zweig und Alban Berg assoziieren. Und nach wie vor grassiert, wie Olga Neuwirth im letzten Jahr im Interview mit dem »Guardian« betonte: Er gehöre zur DNS ihre Heimat, die nie zu einer jüdischen Re-Emigration ermutigt hat. In dieser Hinsicht ist der spektakuläre Erfolg des Crowdfunding ebenfalls ein Zeitspiegel: als Indiz einer zivilgesellschaftlichen Sorge.
Neuwirth ist eine außerordentlich film-affine Komponistien. Ihre Bühnenbearbeitung von »Lost Highway« hat vor einigen Jahren Furore gemacht; ich persönlich würde gern einmal „Maudit soit la guerre“ von Alfred Machin sehen, ein Kriegsrequiem von 1914, das sie vertont hat. Im Gegenzug habe ich nicht das Gefühl, dass sie ungetrübte Freude an Breslauers Film hatte. Ihre üppig modernistische Partitur hält, trotz einiger verschmitzt illustrierenden Passagen, Abstand zu ihm. Sie folgt ihm nicht, sondern setzt eigene Akzente. Seine komischen Aspekte verlocken die Komponistin nicht, allenfalls die satirischen. Zum Vorspann schweigt das fabelhafte Ensemble »PHACE« noch; die Partitur nähert sich den Bildern zunächst mit einem dezent dräuenden Sounddesign. Tumult wird es noch genug geben in dieser Musik. Sie ist eine fulminante Parallel-, auch Gegenerzählung. Mit »Lost Highway« hat Neuwirth gezeigt, dass sie musikalisch neu überdenken will, was an Bildern und Tönen schon existiert. In »Die Stadt ohne Juden« fehlen letztere. Ich glaube, Neuwirth hat sie dennoch gehört.
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