Kritik zu Border
Der Film von Ali Abbasi nach einem Drehbuch von John Ajvide Lindqvist (»So finster die Nacht«) war die große Entdeckung in Cannes 2018, wo er den Hauptpreis der Sektion »Un certain regard« erhielt
Tina sieht seltsam aus; mit ihrem Rundschädel und der dicken Nase, dem Stirnwulst und den darunter tiefliegenden, etwas schielenden Augen, dazu der immer leicht offen stehende Mund, in dem zu viele Zähne zu wenig Platz haben. Sie hat einen kräftigen Körper und keine Frisur und die Uniform des schwedischen Zolls, für den sie tätig ist, schmeichelt ihr nicht. Sie entspricht nicht nur keinem Schönheitsideal, ihr Gesicht wirkt regelrecht befremdlich. Man kann sich denken, dass es Tina in ihrem Leben nicht leicht und wegen ihres Aussehens viel Hänselei zu ertragen hat(te), und doch ist sie weniger verbittert als verschlossen.
Tina ist die veritable Heldin von Ali Abbasis Genre-Bastard mit dem treffenden Titel »Border«, Grenze – und sie wird uns noch überraschen. Zunächst aber lernen wir sie bei der Arbeit kennen; wobei sich der Eindruck des Animalischen, der von ihr ausgeht, noch verstärkt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen steht Tina im Gang eines schwedischen Hafen-Terminals und beobachtet die Passagiere, die die Fähren aus Dänemark verlassen. Von Zeit zu Zeit nimmt sie Witterung auf, im Wortsinn: Etwas steigt ihr in die Nase und vorsichtig schnuppert sie – und schon ist der jugendliche Alkoholschmuggler seine Schnapsflaschen los. Und eines Tages der slicke Anzugträger seine Sammlung von Kinderpornobildern. Und Tina wenig später ihren Seelenfrieden.
»Border« entstand nach einem Drehbuch des Schriftstellers John Ajvide Lindqvist – der hier, wie zuvor bereits für Thomas Alfredsons 2008 erfolgreichen »Låt den rätte komma« in, einen eigenen Text adaptiert – und macht seinen Titel gleich in mehrerlei Hinsicht fruchtbar: Das Geschehen ist nicht nur an einer physischen Grenze zwischen zwei geografisch verortbaren Ländern angesiedelt, sondern auch an einer imaginären zwischen konkreter Realität und mythischer Welt. Das, was sich dort abspielt, ist wiederum grenzwertig, insofern es Tabus verletzt, an moralischen Maßstäben rüttelt und das Vorstellungsvermögen herausfordert. Und schließlich sind auch die Protagonisten Wesen an einer Grenze – oder vielmehr Heimatlose in einem Zwischenreich –, die ihren Weg finden müssen. Beziehungsweise muss Tina sich über ihre Identität klar werden und in der Folge ihre Loyalitäten überdenken. Unvermutet nämlich begegnet Tina an ihrer Grenze einem Mann namens Vore, dessen Physiognomie der ihrigen gleicht. Was Wunder, dass die beiden sich voneinander angezogen fühlen und Tina Vore einlädt, während seines Aufenthaltes in Schweden in ihrem Gästehäuschen im Wald zu wohnen.
Sodann nehmen Ereignisse ihren Verlauf, mit denen man nicht gerechnet hat, die sich jedoch mit der größten Selbstverständlichkeit als faktisch präsentieren und daher sehr plausibel wirken. Ähnlich wie in einem Märchen, in dem die Existenz von Zwergen, Riesen, Feen oder Hexen ja auch nicht hinterfragt wird und in dem daher ein tieferer Sinn sichtbar werden kann, der vordergründig zwar erzieherisch wirken mag, der jedoch weniger auf Disziplinierung denn auf Herzensbildung abzielt.
Denn nicht zuletzt handelt »Border« eben auch von der Ausgrenzung von Minderheiten, von der Wahrnehmung des Fremden und überhaupt von einer Reihe schwergewichtiger Themen, die auf diese Art verhandelt zu sehen mindestens ungewöhnlich ist. Allerdings hat der 1981 in Teheran geborene Abbasi, der seit 2002 in Schweden lebt, sich bereits in seinem Debütfilm über Genrekonventionen hinweggesetzt. »Shelley«, 2016 bei der Berlinale uraufgeführt, demonstrierte einleuchtend, dass Elemente des Fantastischen (Gebärhorror und Monstergeburt) in einen sozialrealistischen Kontext (rumänische Leihmutter bei schwedischen Ökos im Hinterland) gestellt, ein ungeahntes Potenzial an Gegenwartsbezug entfalten können. »Border« setzt mit seiner wagemutigen Fabel nach, sprengt sich regelrecht frei und erobert dem erzählerisch Möglichen neues Terrain. Eine Pionierarbeit.
Kommentare
Film Border
Ich wollte umschalten; doch ich wusste da kommt noch was. Ein Glück für mich. Gefühlskino vom Feinsten wie es nur die Sweden hjnbekommen. Stark gespielt; voller Leidenschaft. Besser geht`s nimmer. Merveilleux.
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