Täterfilme – Durch die Augen des Mörders
»Wintermärchen« (2018). © W-film
In diesem Monat führt Jan Bonnys »Wintermärchen« in das Innere einer dem N.S.U. nachempfundenen Terrorgruppe. Ein Film also, der uns Täter nahebringt, aus ihrer Perspektive erzählt. Das ist heute modisch – aber nicht neu. Georg Seeßlen über den »bösen Blick« in der Filmgeschichte
Filme, jedenfalls solche der gängigen Spielfilmformate, lassen sich nicht nur als bildhafte Erzählungen, als Reiz-Reaktions-Anordnungen, als »Gleichnisse« oder Träume deuten, sondern auch als imaginäre Gerichtsverhandlungen mit fluktuierenden Funktionen: Wer Angeklagter, wer Kläger, wer Zeuge und wer Berichterstatter ist, das mag sich im Lauf eines Plots ändern, und auch die Funktion der Zuschauerin und des Zuschauers als »Richter« ist alles andere als stabil. Die Täterperspektive im Handlungsfilm (im Dokumentarischen wird man mit ähnlichen Problemen zu tun haben) kann also nicht nur eine Frage von Drama und Emotion sein – wie anders als im Blick des Täters sollten wir die Angst des Opfers wirklich erkennen? –, sondern auch eine der moralischen Fairness.
Es gibt radikale Lösungen. Etwa wenn das Geschehen ausschließlich aus der Perspektive eines Helden gezeigt wird, der als ein Instrument der höheren Gerechtigkeit fungiert. Oder aber wenn ein Film sich vollkommen der Häresie eines fundamentalen Täterblicks bedient, sei es, indem man ihn von innen auflöst, wie es Arthur Penn in »Bonnie und Clyde« macht; sei es, indem man ihn in einem medialen Spiegelkabinett bricht, wie Oliver Stone in »Natural Born Killers«; sei es, indem man, ganz und gar »In Cold Blood – Kaltblütig«, dem Täter auf einem blutigen Weg durch eine verrottete Welt folgt wie in »Henry: Portrait of a Serial Killer« oder in »Mann beißt Hund«.
Die gewohnte Dramaturgie bewegt sich irgendwo dazwischen, zitiert oder zersetzt die Täterperspektive, entlarvt sie gar als Lüge wie in »The Usual Suspects«; sie bürdet ihr Beweislast auf wie in einem Tatort-Krimi oder nutzt sie zum Verstehen des Täters. Nicht nur wegen Peter Lorres Spiel wurde Fritz Langs »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« 1931 zu jenem Film, der das Unheimliche so real fassbar machte. Der Täter ist hier Schatten und Blick zugleich; folgerichtig endet seine schreckliche Geschichte in einer – allerdings illegalen – Gerichtsverhandlung und in einer Umkehr des Blicks. Indem er selbst zum angeschauten Opfer wird, verlässt man die subjektive Nähe zu ihm, während sein elendes Flehen wiederum auf die Kälte der ihn verurteilenden Gangster verweist.
Die Grammatik des Blicks
Nun ist freilich eine Täterperspektive nicht einfach schon dadurch erzeugt, dass eine Szene oder ein Gegenüber »durch die Augen« des Täters gesehen wird. Dieser Täterblick ist nur eine Voraussetzung für sie, die anderen Voraussetzungen sind das Wissen um die Geschichte hinter dem Täterblick und eine Form der Identifikation, offen oder verdeckt. Wir müssen bis zu einem gewissen Grad das Begehren, den Zorn, das Interesse dieses Täters – oder der Täterin – teilen, wenn vielleicht auch in einer spezifischen Mischung aus Faszination und Abscheu, Mitschuld und Distanzierung. Schließlich tritt als letztes Element für eine cineastische Täterperspektive die Nähe hinzu. Und dabei kommt es nicht allein auf den Grad einer solchen Intimität an, sondern vor allem auf die Dauer. Eine Kamera, die »länger als notwendig« im Blick auf den Täter verharrt, wie es Anthony Mann in einigen seiner Western geschehen lässt, oder die gar im Täterblick zu schwelgen scheint wie Jack Arnolds Blick auf die schwimmende Frau durch die Augen der »Creature From the Black Lagoon«, schafft eine wahrhaft unheimliche Verführung: Die Rückkehr zum objektiven, zum »Richterblick« ist nur noch schwer möglich. Und es lässt uns argwöhnen: Das Bedeutende im Kinoplot ist der Täter, sowohl im passiven Sinn als auch im aktiven Sinn: Der Blick verleiht ihm Bedeutung – und sein Blick erzeugt Bedeutung.
Trotz dieser Komplikationen scheint die Sache immerhin dort noch einigermaßen überschaubar, wo es um klare Kategorien von Gut und Böse geht: Spätestens mit dem finalen Duell scheinen sowohl der Täterblick als auch die Nähe zum Täter wieder überwunden. Der letzte Blick ist der der Gerechtigkeit. Nicht nur diskursiv, sondern auch ikonographisch ist die moralische Ordnung wieder hergestellt. Aber um die Welt so einfach noch in einen Kampf der Guten gegen die Bösen zu sortieren, muss man schon einen Superhelden- und Superschurken-Kosmos erschaffen, und nicht einmal dort will die Einteilung noch vollständig gelingen. Die Frage des Jungen in dem apokalyptischen Film »The Road« an seinen Vater ist mehr als berechtigt: Sind wir noch die Guten? Ins Cineastische übersetzt lautet sie: Gibt es noch einen gerechten Blick?
Warum tun die das?
Aber die Frage nach der Täterperspektive ist nicht schon vom Tisch, wenn man an die Stelle von mythisch-moralischen psychologische oder soziologische Grundierungen eines Plots einsetzt. Der Täter braucht, um ordentlich be- und abgeurteilt werden zu können, ein »Motiv«. Daher wird in einer klassischen Kinoerzählung die Täterperspektive schließlich zum Teil der Anklage. Dass er ein Motiv hat, macht den Täter zugleich menschlich und überführbar, und die cineastische Form dieses Verstehens und Anklagens in einem ist nicht ohne die Täterperspektive möglich. Wahrhaft skandalös aber erscheinen dann Filme, in denen man sich auf Täterperspektiven einlassen muss, ohne dass man, sozusagen als Belohnung, ein Motiv daraus gewinnen kann. Neben einem mehr oder weniger nihilistischen Spiel wie John McNaughtons »Henry: Potrait of a Serial Killer« kann dies, ganz anders, auch als Umkehr funktionieren: In Michael Hanekes »Funny Games« verweigern die jugendlichen Täter explizit jede Offenbarung eines Motivs. Sie verweisen die Moral des Schauens – man könnte sagen: gnadenlos – an die Zuschauer zurück.
Täterperspektiven im Film oder deren Fehlen sind nie als eindeutige moralische Zuschreibungen zu verstehen. So kann ein vollständiges Ausblenden nicht stets als Legitimation betrachtet werden. Robert Bressons »Pickpocket«, der eine reine Täterperspektive einnimmt, oder Vittorio De Sicas »Fahrraddiebe«, der dem Täter kaum Beachtung schenkt, verstehen sich anders: Der wahre Täter bei Bresson ist transzendental, der wahre Täter bei De Sica ist politisch – die Gesellschaft, die Armut selbst. Und wenn wir bei Don Siegel mit »Dirty Harry« auf den gejagten und gestellten »Bösen« schauen, den der Cop mit seinem »Make my day« provoziert, dann ist die moralische Beurteilung dieser Einstellung höchst ambivalent. Gerade in dem Augenblick, in dem wir besonders mit seinem Blick verschmelzen, kommt uns der größte Zweifel an der Figur. Aber natürlich wird prompt auch das Mitleid mit Harrys Opfer zur Falle. Auf der Ebene der Blicke wiederholt sich, was im Plot angelegt ist, nämlich dass sich Polizisten und Gangster immer ähnlicher werden und eher als in der Form Gut gegen Böse in der Form Jäger und Gejagter, auch in Umkehrung der Rollen, zu verstehen sind.
Den Täterblick zugleich zu radikalisieren und ihn zu verfremden, ist ein probates Mittel, wenn es darum geht, dass dieser Blick nicht menschlich ist. In Michael Wadleighs Öko-Horrorfilm »Wolfen« werden etliche Szenen aus dem Blickwinkel von Wölfen durch ein phosphoreszierendes Farbnegativ verwandelt. Androiden und Kriegsroboter sehen ihre menschlichen Opfer als Computermodelle, Aliens wie in Predator in Form von Wärmebildern. Aber schon das Zielfernrohr, das Attentatsfilme wie »Der Schakal« so ausgeprägt nutzen, oder das Sehrohr in U-Boot-Filmen dienen einer Abstraktion des Täterblicks, die auch das Opfer verändert. Die technische Perfektion geht einher mit einer Delegitimierung.
Eine Täterperspektive ist freilich erst dann vollständig, wenn der Täterblick mit der Konstruktion eines Subjektes verbunden ist. Der Blick des Maskenkindes in »Halloween« auf das entsetzte Opfer ist so wenig eine Täterperspektive wie die Verfolgung des final girls im Slashermovie durch die Kamera oder der Schrei eines getroffenen Soldaten im Kriegsfilm. Umgekehrt ist die Perspektive von Bruce Willis in Walter Hills Yojimbo-Adaption »Last Man Standing« »leer«, weil es sich um einen Helden ohne Vergangenheit und ohne »Seele« handelt. Man könnte also wohl als ein Extrem in dieser Grammatik der Perspektiven den leeren Täterblick beschreiben, einen Blick, in dem sich weder Subjekt noch Motiv offenbart. In Carpenters Film wird dies noch einmal radikal hintergangen, als sich am Ende als Subjekt dieses Blicks ein verwirrtes Kind demaskiert, das zugleich, wie der Psychiater erklärt, das absolut Böse vorstellt. Diese Gleichung im Täterblick macht die Verwirrung komplett: Reine Unschuld und absolut Böses sind zu einem Blick verschmolzen, in dem ebenfalls die klassische Legitimation dieser Annäherung verweigert ist, nämlich die Suche nach dem Motiv.
Der Blick ist eine Wahl. Daher erscheint im Täterblick das Opfer immer »erwählt«. Und damit wird eine Verschiebung vollzogen, die cineastische Technik und öffentliche Wahrnehmung miteinander verbindet: Die Bedeutung des Opfers wird vom victim, dem Menschen, dem Leid und Gewalt angetan werden, zum sacrifice, dem Menschen, der sich als Opfer »anbietet«, um symbolische Schuld zu tilgen oder ein Kollektiv zu schützen. Es wird ein »Sinn« konstruiert. So mag es nicht überraschen, dass eine Opferperspektive im Film beinahe noch komplizierter wiederzugeben ist als eine Täterperspektive: Das Erkennen der Gefahr ist so sehr auch ein »Annehmen« der Opferrolle, wie ein Opfer, das unvorbereitet getroffen wird – wie es wohl einer Mehrzahl der Opfer im wirklichen Leben ergeht – an Bedeutung verliert. Genau genommen ist die Gewalt, die ein Opfer unvorbereitet trifft, im Film in aller Regel grotesk.
Der Zuschauer als Komplize
Das Wesentliche einer Täterperspektive im Film ist es, für Augenblicke den Zuschauer zum Komplizen zu machen, und es kommt zu einer Übertragung der Schuld. Im einfachsten Fall: Die Gewalt des Täters entspricht dem Vergnügen des Zuschauers daran, oder das Begehren des Täters reflektiert das Begehren des Zuschauers. Ganz explizit sprechen daher die Protagonisten von Funny Games das Publikum als Mittäter an. In Benny's Video verbindet Michael Haneke den Zuschauerblick mit der Aufnahme des Mordes – ohne die psychologische Auflösung, die Michael Powell einst in seinem Skandalfilm »Peeping Tom« anbot, wo der Kinoblick mit dem Mörderblick verschmilzt auf der Suche nach dem perfekten Ausdruck der Angst. Entgegen den Hitchcock-Filmen, in denen das Komplizentum der Zuschauer immer nur locker, aber umso wirksamer eingeführt ist durch den Täterblick, ist er hier zur Engführung, zur Unentrinnbarkeit geworden. Kein Wunder auch, dass es Martin Scorsese war, der maßgeblich an der Wiederentdeckung von Powells Film beteiligt war, denn auch er setzt immer wieder, besonders in »Taxi Driver«, die Täterperspektive ein, wenn auch im Sinne einer fundamentalen Fremdheit zur Figur selbst. Wir sehen möglicherweise die Welt durch Travis Bickles Augen, aber wir verstehen sie nicht durch sie. Anders gesagt: Die Täterperspektive ist notwendig, um zu begreifen, dass Travis Bickle einer ist, den die Verhältnisse daran gehindert haben, zu verstehen, was er sieht. So wie uns Hitchcock in »Psycho« in einen überfüllten Kopf führt, so führt uns Scorsese in einen entleerten.
Die Täterperspektive erscheint als legitimes und notwendiges Verfahren, wenn es sich um fiktive, allegorische oder fantastische Repräsentationen handelt. Es gehört eindeutig zum »Abenteuer Kino«, sich dem Bösen unziemlich zu nähern und sich, noch unziemlicher, seinen Blick zu eigen zu machen, um schließlich das Wahrnehmungsexperiment zu beenden und zum Blick der Gerechtigkeit zurückzukehren. Ernsthaft problematisch indes wird die Täterperspektive, wenn sich Repräsentation und Realität vermischen oder wenn sich mit dem Wechselspiel aus Täter-, Opfer- und Richterblick nicht nur eine allgemein moralische, sondern eine konkret politische Perspektive verbindet. Man mag sich weigern, dem legitimierten Täterblick in »Rambo II – Der Auftrag« noch zu folgen. Und anderswo mag man sich einer Gender-Ebene in der Blickkonstruktion bewusst werden: männlicher Täter, weibliches Opfer oder vermännlichende Tat und verweiblichendes Opfer. Nicht nur die Frau als Täterin in Patty Jenkins' Monster – Charlize Theron als Aileen Carol Wuornos –, sondern auch ihr Blick auf die (Männer-)Welt ist ein Verstoß gegen Blicktradition und Mainstreamkultur. Der Skandal scheint indes nicht eigentlich in der gelegentlichen Verletzung dieser Grenzen zu liegen, sondern vielmehr darin, dass in der Filmgeschichte der männliche, weiße Gewalt- und Ordnungsblick so dominant werden konnte, dass wir ihn nicht mehr als Täter-, sondern als Richterblick ansehen, als Blick, der dem Schuss vorangeht, der das chaotische Gewimmel des Angriffs unterbinden soll, als Blick, der schon Urteil ist. In John Fords »The Searchers« gibt es eine drastische Frage in diesem Blick. Wir sehen mit dem bekennenden Rassisten Ethan die fliehende, indianisch »infizierte« Frau und ihre Verfolger, und ein kurzes, aber unübersehbares Zögern zeigt uns, dass es eine Wahl gibt: die Frau oder ihre Verfolger zu erschießen. Allein die Möglichkeit, Ethan hätte sich anders entscheiden können, als er es schließlich tut, lässt die Mythologie dieses männlichen Blicks wanken.
Täter, Geschichte, Gesellschaft
Die Täterperspektive im historischen Prozess ähnelt der im individuellen Drama – insofern sie notwendiger Teil eines gerechten Verfahrens ist –, unterscheidet sich aber auch drastisch. Denn sie betrifft neben einem persönlichen Vergehen eine Idee, ein System, eine Projektion. Die Schuld der Faschisten und die Schuld des Faschismus zum Beispiel bedingen einander, aber sie sind nicht deckungsgleich. Das macht die Konstruktion der Täterperspektive in einem politischen Kontext erheblich schwieriger als die in einer Mordgeschichte. Selbst wenn, wie die Beispiele zeigten, Täterblick und Täterperspektive nicht notwendig zu dem führen, was wir landläufig Identifikation nennen, so machen auch hier Subjektivierung und Intimisierung ein anderes, komplizierteres Sehen erforderlich. Leicht zerfallen dann Filme über historische Subjekte und ihre Protagonisten, von der Oktoberrevolution zu Rosa Luxemburg, von Richard Nixon bis zum Fall der Mauer in den menschlichen und den politischen Teil. Damit wird auch die Täterperspektive zwiespältig.
In Andreas Dresens »Gundermann«, der einen Stasispitzel, Liedermacher und zugleich seltsam ehrlichen Mann porträtiert, ist eine Täterperspektive dort eingesetzt, wo es gilt, Beweggründe zu ergründen, die der Protagonist offenbar selbst nicht versteht. Allerdings bleibt der Film vage und zeigt vielleicht wider Willen, was das Gegenteil von Selbstgerechtigkeit und moralischer Überlegenheit erzeugen kann, nämlich eine Nachsicht, die wirkt, als wolle man dem Täter beim Übermalen seiner Taten zur Seite stehen. Vor Gericht wie im Film kann die Darstellung der Täterperspektive dazu führen, dass die Opferperspektive in den Hintergrund tritt; der Täter ist immer »interessanter« als das Opfer, denn er ist das soziale Problem, der Skandal, das Aktive der Narration. Der Einsatz der Täterperspektive erfordert so viel politisches wie ästhetisches Bewusstsein.
Die Probleme der Täterperspektive sind nicht weniger brisant in Filmen über den historischen Faschismus. Da wären etwa Theodor Kotullas »Aus einem deutschen Leben«, der Götz George (einen »Sympathieträger«) als KZ-Kommandanten begleitet, und neuerdings Robert Schwentkes »Der Hauptmann«, in dem es dem Regisseur zufolge um die »zweite Reihe der Täter« geht. Schwentke macht im Übrigen eine weitreichende Bemerkung: »Es ist auffällig, dass wir die einzige Kultur sind, die nichts aus der Täterperspektive erzählt hat.« Zuvor hatte es allerdings schon Andrzej Munk 1963 verstanden, eine entsprechend verstörende Wirkung mit »Die Passagierin« zu erzielen, der Geschichte einer KZ-Aufseherin, die – mit einer Überlebenden konfrontiert – eine Deckfantasie zu den wahren Ereignissen entwickelt.
Ist es also, um Schuld zu empfinden, notwendig, in die Täterrolle zu schlüpfen? Versuche der Annäherung, die gründlich schiefgegangen sind, etwa »Der Vorleser« oder »Der Unhold«, zeigen, wie problematisch eine Angleichung von Erzähl- und Täterperspektive ist. Mark Weitzman, Leiter des Simon Wiesenthal Center in New York, meinte zu Recht zu »Der Vorleser«: »Es geht um eine Frau, die verantwortlich ist für den Tod von 300 Juden – und ihre größte Scham ist es, Analphabetin zu sein.« Schlimmer dabei ist eine Erzählhaltung, die diese Verschiebung bejaht. Eine Täterperspektive besteht auch in einer Abwehr der Schuld, und wer sich auf die Täterperspektive einlässt, wird diese Abwehr mitbehandeln müssen.
Drastischer wird das Problem noch, wenn man eine Täterperspektive in einem ideologischen und ästhetischen Rahmen präsentiert, wie es der etwas berüchtigte australische Film »Romper Stomper« tut, der eine Gruppe rassistischer Skins begleitet, so als wäre man ein Mitglied dieser Gang. Aber ist zum Beispiel etwas über die besondere Körperidentifikation der neuen Faschisten zu erfahren, wenn nicht mit einer Täterperspektive auch ein Teil solcher heroisch-obszöner Gewalt- und Körpererfahrung wiedergegeben wird? Muss man sich für die Täterperspektive nicht mit der »Kultur« infizieren, die der Täter repräsentiert und die ihn buchstäblich formt?
Geringer scheint das Repräsentationsproblem, wenn die Täterperspektive, die Individuelles mit Kollektivem und Moralisches mit Ästhetischem verbindet, eingenommen wird, um einen Läuterungsprozess zu illustrieren wie in »Scorpion – Brother. Skinhead. Fighter« von Santiago Zannou aus Spanien oder »Kriegerin« von David Wnendt aus Deutschland; auch in »American History X« wird diese doppelte Perspektive verwendet, mehr noch in Filmen, die, mittlerweile fast ein Klischee, einen Menschen mit doppelter Existenz als Täter-Opfer einführen – wie etwa der Nazi-Skin, der seine jüdischen Wurzeln entdeckt in »Luna Park« von Pawel Lungin. Zwiespältig sind Filme, die das »Abgleiten« von Jugendlichen, die zuerst verständnisvoll charakterisiert wurden, in die rechte Szene beschreiben wie Hanno Brühls »Kahlschlag« von 1993. Hier sehen wir Taten und Menschen auseinanderfallen; die Täter werden sozusagen gegen sich selbst in Schutz genommen.
Besonders drastisch und möglichst authentisch versucht »Oi! Warning« von Benjamin und Dominik Reding mit Protagonisten des Skin- und Punk-Milieus gleichsam, ein gebrochenes Selbstporträt zu entfalten. Das Lexikon des internationalen Films meint: »In krassem Naturalismus ohne jede Beschönigung der jeweiligen Szenen illustriert der hervorragend fotografierte Film die fatalen Sackgassen eines kollektiven Wahns, der sich in Hass und Zerstörung entlädt und damit jede Form jugendspezifischer Rebellion sprengt. Ein sperriger, ›unbequemer‹ und schmerzhafter Film über Heimatlosigkeit und Orientierungslosigkeit.«
Ist das so? Fällt die Täterperspektive auch hier in den »Schrei nach Liebe« zurück, der am Ende von Jan Bonnys »Wintermärchen« ertönt – nachdem man sich in einen Taumel von Sex, Suff und Gewalt gestürzt sah, keine Täterperspektive, sondern eher eine Täterperspektivlosigkeit? Die Nähe zu Personen, die weder Perspektive noch Legitimation kennen, zu Reflexion so wenig in der Lage sind wie zu Reue, erzeugt ein Empfinden, wie wir es aus der (elektronischen) Kommunikation derzeit kennen: Was Hannah Arendt einmal als die Banalität des Bösen charakterisiert hat – die mörderische Handlung aus nichts als kleinbürgerlichen Gewohnheiten des autoritären Charakters heraus, dem es, wie es Götz George in »Aus einem deutschen Leben« sagt, physisch unmöglich ist, einem Befehl nicht zu gehorchen –, das ist nun zu einer schieren Gegenwärtigkeit geworden.
Und eben dies mag, auch in einem Kinofilm, einen Punkt beschreiben, an dem wir die Ebene des Rechts verlassen, auch des moralischen Diskurses und der Rationalisierung, auf der die Täterperspektive eine nicht unbedeutende Rolle spielt, und, gewollt oder nicht, zu einer Form der Transzendenz gelangen: Die Nähe ohne Perspektive führt uns nicht zum Verbrechen, seiner Aufklärung und seinem Urteil, sondern an die Wurzeln des Bösen. Dem Bösen gegenüber aber kann man nur noch mit der hilflosen Hoffnung auf Gnade von außen begegnen. Und erneut erleben wir eine Beziehung zwischen der Gewalt, die ein Film zeigt, zu der Gewalt, die ein Film ausübt. Wenn von der Täterperspektive nur der Brei der körperlichen Nähe, die unbarmherzige, unfreiwillige und bewusstlose Erfahrung des Mit-Tuns bleibt, verstärkt sich eine Empfindung fundamentaler Ohnmacht. Der Horror wird Realität. Und die Realität wird zum Horror. In einer obszönen und mittlerweile mainstreamkompatiblen Form von Trash-TV und Reality Show ist das längst gewohnte Kost, und die »sozialen Medien« sind davon am stärksten kontaminiert. Es ist, als würde ein Film wie »Wintermärchen« da nur noch einen, vielleicht entscheidenden, Schritt weiter gehen.
Vielleicht hilft Drastik, wo Diskurs nicht mehr nutzt. Auf jeden Fall wird »Wintermärchen«, das Porträt einer dem N.S.U. nachempfundenen neofaschistischen Terrorgruppe als Monster der Depravation, der Diskussion um Nähe und Distanz neuen Stoff geben. Und eine Ahnung davon vermitteln, dass es das Subjekt, das wir uns für eine Täterperspektive im Dienste von Gerechtigkeit und Vernunft denken müssen, einfach nicht mehr gibt. Gegen die neue Banalität des Bösen ist auch eine Filmkamera machtlos.
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