Kritik zu Near and Elsewhere
Der Essayfilm von Sue-Alice Okukubo und Eduard Zorzenoni wendet sich dem Thema Zukunft zu und versucht sich in einer neuen ästhetischen Form des Nachdenkens
Eine schemenhafte Figur bewegt sich wie ein Schatten vor einer Wand aus verschränkten Gittern. Schwarz-weiß ist das Bild, eher poetisch als dokumentarisch. So könnte ein Zeichentrickfilm beginnen, eine verträumte Fantasie. Doch »Near and Elsewhere« ist ein Essayfilm, eine Sammlung von Statements von unterschiedlichen, hochspannenden Menschen, die sich eine Art Zwischenspiel in der Möglichkeitsform gönnt. Drei Menschen treffen an einem merkwürdig futuristischen Ort aufeinander und gehen wieder auseinander. Sie sind Verlorene der Zeit in einer Utopie und übersetzen die Gedanken der befragten Denker ins Bildliche. Zwischen den merkwürdigen Gebäuden aber entsteht keine Geschichte und schon gar keine Konkretisierung des Abstrakten. Hier muss der Film belegen, warum er Film geworden ist und kein Radiofeature.
Was macht man mit dem Versuch der beiden Regisseure Sue-Alice Okukubo und Eduard Zorzenoni, wichtige Fragen zu stellen, aber keine wirklich fesselnden Bilder dafür zu finden? Ihr Filmessay »Du wohnst falsch! – The Wounded Brick«, den Portugal 2014 als offiziellen Beitrag in seinen Pavillon bei der Architektur-Biennale in Venedig aufnahm, bestand auch zu einem Großteil aus Interviews, brauchte aber das Bild nicht nur als Beleg, sondern als Träger einer bedrängenden Stimmung. Das ist hier anders. Denn während die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, der deutsche Kulturwissenschaftler Joseph Vogl, die italienische Soziologin Elena Esposito, der amerikanisch-weißrussische Publizist Evgeny Morozov, die deutsche Marsforscherin Christiane Heinicke, der deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx und die österreichische Langstreckenläuferin und Arztin Andrea Mayr über eine mehr oder minder utopische Zukunft sprechen, entsteht eine Spannung, die durch die Bilder eher gebremst wird. Die inszenierte Irrealität unterliegt den abstrakten Gedanken.
Okukubo und Zorzenoni sind für nachdenkliche Filme bekannt. Eduard Zorzenoni (Jahrgang 1958) ist Psychologe und Philosoph und kommt von der Malerei, während Sue-Alice Okukubo (Jahrgang 1970) einen musikalischen Hintergrund als Komponistin hat. Rhythmus und Gedankenspiele kommen hier zusammen, wenn sie mit ihren Gästen über die Welt nachdenken, in der wir leben. Etwa über die Frage, ob Utopien dafür verantwortlich sind, dass wir blutige Auseinandersetzungen führen, oder ob sie nicht vielmehr der Motor all unseren Strebens sind. Ob grenzenloses Wachstum zu einem Kollaps führen muss oder in ein nahezu perfektes Leben münden kann? Sie stellen die Frage, warum wir eher ein Ende der Welt denken können, als ein Ende des Kapitalismus. Wohin bewegen wir uns? Und ist es Zeit, einzuschreiten und eine neue Richtung einzuschlagen? Die Antworten sind vielfältig und in sich schon fesselnd genug. Man möchte den Film gleich noch einmal sehen, um Widersprüchen auf die Spur zu kommen und zu verorten, wo die einzelnen Meinungsmacher stehen. Denn einfache Antworten, das liegt auf der Hand, kann es bei so grundsätzlichen Fragen nicht geben.
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