Kritik zu Der Junge muss an die frische Luft
Eine keineswegs unbeschwerte Kindheit im Ruhrpott der 70er Jahre: Caroline Link hat sich der autobiografischen Erinnerungen von Hape Kerkeling angenommen und trifft den richtigen Ton zwischen Humor, Trauer und Optimismus
Mein Gott, so eine verrückte, riesige Verwandtschaft, und der kleine Hans-Peter mittendrin. Zum Glück für den Jungen gibt es all die liebevollen Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins und die Großeltern. Hans-Peter ist gut aufgehoben in dieser Großfamilie. Er wird einmal ein großer Entertainer werden, das weiß damals schon Oma Änne. Und wir wissen es heute auch, denn Hans-Peter ist Hape Kerkeling, der mit »Der Junge muss an die frische Luft« seine Autobiografie vorgelegt hat. Caroline Link hat sich dieser erfrischend ehrlichen und über weite Strecken humorvollen Kindheitserinnerung nun filmisch genähert. Es ist kein Spoiler, wenn hier auf das Wesentliche Bezug genommen wird, den Freitod von Kerkelings Mutter, den er mit neun Jahren verkraften muss. Davon handelt der Film – vom Davor und vom Danach.
»Vielleicht hätte ich mich mehr anstrengen müssen«, räsoniert die Jungsstimme aus dem Off. Würde Mama dann noch leben? Die Tragik dieses moppeligen Kindes ist, dass er der Einzige ist, der seine Mutter für kurze Momente aus der Depression reißen kann – mit Parodien auf Jürgen von Manger, Zaubertricks oder mit Petersilie in den Ohren. Aber es hilft nichts. Die beiden Jahre vor der Katastrophe sind eine einzige Glückserfahrung für das Kind, er verbringt viel Zeit in Oma Ännes Lebensmittelladen, wo er Anfang der 70er Jahre den Kohlenpottlern auf den Mund schaut und sie schon damals parodiert. Änne kauft zwei Pferde und fährt in einer Kutsche divenhaft durch ihr Recklinghausen. Stünde es nicht so in Kerkelings Biografie, man glaubte es nicht.
Caroline Link macht daraus einen großherzigen und sehr humorvollen Film, der nie die Grenze zum Klamauk überschreitet. Sie bleibt insofern bei ihrem ganz eigenen Thema, der Familiensaga. Kaum jemandem gelingt es so gut wie Link, die feinen psychologischen Zwischentöne zu treffen, mit Blicken und kleinen Gesten ganze Geschichten zu erzählen. So steuert Hans-Peter seinem Unglück entgegen, und es ist Opa Willi, der mit dem Satz »Der Junge muss an die frische Luft« seinen Enkel von Mamas Traurigkeit wegholt, mit ihm verreist und ihn für kurze Zeit rettet. Aber der Film wäre nichts ohne seinen großartigen jungen Hauptdarsteller Julius Weckauf, der mühelos zwischen Komik und Trauer agiert.
»Im Kino gewesen, geweint.« Dieser häufig zitierte Kafka-Satz beinhaltet alles, was man zu dem Film sagen kann, denn er ist über weite Strecken so anrührend inszeniert, dass man tief betroffen ist, gleichzeitig sehen wir aber immer den Hoffnungsstreif am Himmel, den auch Hans-Peter sieht. Er wäre nicht der geworden, der er heute ist, hätte er nicht durch diese Höhen und Tiefen gehen müssen. Der warme Klang des Films tut ein Übriges, die vergangene Epoche des Reviers wiederzubeleben, neben den Kulissen schafft nicht nur der angedeutete Ruhrpottdialekt eine authentische Atmosphäre, sondern auch die Musik von Niki Reiser, der zu allen Link-Filmen den Score liefert. Und Hape Kerkeling wäre nicht er selbst, gäbe es da nicht noch eine Überraschung zum Schluss.
Kommentare
Genau getroffen - so war diese Zeit
Das Innenleben eines betroffener Kindes ist hier bewegt dargestellt es schwankt von Verzweiflung bis zum Überlebenstraining. Was die Kleinen da leisten müssen und was oft von den Erwachsenen in Ihrer eigenen Trauer nicht sehen können. In diesem Film wird gezeigt wie wir Kinder von damals, in den 70ern, innerhalb der Katastrophen zur Seite gestellt wurden einerseits, und anderseits wie genau dieses Kind in der großen Familie, in der immer jemand da ist, mit Ansprache und Mutmache wieder Selbstvertrauen finden kann um seinen Weg zu gehen. Genial dargestellt. Danke.
Filmkommemtar
Es gibt eigentlich gar nicht viel zu sagen....es ist einfach ein großartiger Film geworden - im jeglicher Hinsicht : mein Kompliment!!! Es wäre doch ein Jammer gewesen wenn Menschen diese Geschichte Kerkelings niemals erfahren hätten! Danke an alle Beteiligten für dieses geniale Filmerlebnis!
Ja, ich weiß, dat iss eigentlich nebensächlich
Der Film berührt mich, trotz so manchen Klischees und Holzschnittartigkeiten.
Es hätte bei der durchaus prominenten Besetzung auch etwas weniger Plakativität nicht geschadet.
All den liebevoll herausgearbeiteten Details dieser Zeit hätte die eine oder andere Überzeichnung weniger dem Film gutgetan.
Beim bemüht authentischen Ruhrpott-Sprech hätte ich mir ein bißchen mehr Sorgfalt und Sprachübung gewünscht.
So tingeln beispielsweise der durchaus begabte junge Hauptdarsteller und Diana Amft etwas zu oft zum rheinischen Zungenschlag hinüber.
Insgesamt eine gelungene Inszenierung mit Wiedererkennungswert.
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