Eine Studie in Bordeauxrot
Mit dem franko-belgischen Comic verhält es sich wie mit dem Great American Songbook: Beide besitzen die Gabe, sich regelmäßig zu erneuern. Sie überdauern die Jahrzehnte, weil sie mit der Zeit gehen und zugleich die Tradition respektieren. Ihre Jugendlichkeit ist paradox.
Asterix und Obelix, Lucky Luke oder Spirou ist ihr Alter jedenfalls nicht anzumerken. Sie erleben ständig neue Abenteuer an neuen Orten. Den Cowboy, der schneller schießt als sein Schatten, hat es beispielsweise gerade nach Paris verschlagen; demnächst könnte er sogar, dank des Berliner Zeichners Malwil, auf einen Drahtesel umsatteln, was Jolly Jumper sicher grämen wird. Der unternehmungslustige Page Spirou, der vor 80 Jahren im Hotel Moustic in Brüssel anfing, ist bereits unter die Fittiche eines hiesigen Zeichners geraten: Flix hat sich überlegt, was er und sein Kumpan Fantasio wohl in Ostberlin kurz vor dem Mauerfall anstellen könnten.
Natürlich ist derlei Frische nicht sprichwörtlich und sind derlei populäre Kulturgüter nicht unverwüstlich. Es hängt immer von den jeweiligen Interpreten ab. Ein Song von Gershwin, Porter oder Rodgers & Hart klingt ja auch nicht modern, nur weil ihn, sagen wir mal, Rod Stewart singt. Es braucht schon Überlieferungskünstler wie Diana Krall oder Kurt Elling, um sie souverän zwischen Einst und Jetzt zu verorten. Auch das erste Kinoabenteuer des kleinen Spirou, inszeniert von Nicolas Bary, bemüht sich um eine Art aktueller Zeitlosigkeit. Es startete zwar schon vor ein paar Wochen, läuft aber immer noch hier und da; Kinderfilme sind Longseller.
Dieser "Kleine Spirou" ist in einer Gegenwart angesiedelt, in der Schuljungen auf Skateboards durch die Nachbarschaft sausen, Lehrerinnen aber noch Brillen tragen und großzügige Dekolletés zur Schau stellen müssen. Ihre männlichen Kollegen sind radebrechende Tolpatsche. Dieser Spirou ist auch noch gar kein Hotelpage, was durchaus ein Damoklesschwert der Adaption ist, sondern ein Pennäler, der gern Unruhe stiftet. Seine kecke Haartolle fehlt, aber die machte sich unter dem Pagenkäppi ohnehin besser. Er ist vielmehr rothaarig, was reizvolle Perspektiven eröffnen könnte, und hat eine mächtige, alterstypische Zahnlücke. Ebenso wie der Junge, den ich aus den Comics kenne, geht er mit Mädchen noch ziemlich schüchtern um. Aber eigentlich müsste er gar nicht Spirou heißen.
Die Comicfigur ist ein Sonderfall, da sie keinem Zeichner oder Autor (wie Goscinny, Uderzo oder Morris) gehört, sondern einem Verlag (Dupuis). Rob-Vel hat sie 1938 erfunden und gab dann während der deutschen Besatzung Belgiens die Stafette an Jijé weiter, bevor sie nach dem Krieg der große Franquin als Abenteurer neu erfand, der indes die markante Pagenuniform anbehielt. Seither hat sie etliche Metamorphosen durchlaufen; die Filmadaption lehnt sich wohl an den nervöseren Stil von Tome und Janry an. 2006 kam Dupuis auf die Idee, parallel zur laufenden Albenproduktion, einzelnen Autoren Sonderbände anzuvertrauen. Mein Favorit darunter ist »Porträt eines Helden als junger Tor« von Émile Bravo, der 2008 erschien und nun eine erste Fortsetzung erhalten hat, die einerseits »Schlechter Start in neuen Zeiten« heißt und andererseits als erster Band eines vierteiligen Zyklus' namens "Spirou oder: die Hoffnung" figuriert, der bis 2021 seine Abenteuer während des Zweiten Weltkriegs auserzählen will. Die Uno hat Bravos Held zum Botschafter der Menschenrechte ernannt, deren Allgemeine Erklärung übrigens heute vor 70 Jahren verkündet wurde.
Auch weitere Spezialbände, aus der Feder des Gespanns Schwartz und Yann, spielen während der Besatzung. Ich mag sie wegen ihrer bisweilen aufdringlichen Zitatverliebtheit nicht so sehr wie Bravos Neuerfindung. (Allerdings haben einige hochmögende Comickenner den Köder gern geschluckt.) All diesen Unternehmungen, einschließlich des Films, ist gemeinsam, dass sie der Kinoregel "Alles auf Anfang" folgen und zu den Quellen zurückkehren, also die Anfänge Spirous neu interpretieren. Der bislang verdrängte Weltkriegshintergrund ist natürlich ungemein aufschlussreich. Bravos Spirou zeichnet sich durch immense politische Naivität aus, was zunächst als Rückeroberung der Unschuld erscheint, aber immer komplizierter wird (allein schon der Konflikt, ob er dem Reporter Fantasio Vertrauliches über die Hotelgäste verrät, die 1939 über das Schichsal Polens verhandeln!); Schwartz & Yann nehmen explizit das Problem der Kollaboration in den Blick.
Barys Spirou ist von diesen Zeitläuften unbelastet. Sei größtes Problem ist, dass er Angst vor Hotelfahrstühlen hat, die ihn bis in seine Träume verfolgen. Dieser Spirou ist kein Waisenkind, sondern wächst in einer Familie auf, in der es Tradition hat, den Beruf des Pagen zu ergreifen. Der Großvater (Pierre Richard) trägt noch immer die alte Uniform, die er zwar über dem Bauch nicht mehr zuknöpfen kann, welche aber das kennerhafte Entzücken des Schneiders weckt, der nun den Enkel einkleiden soll. Auch die Mutter (Natacha Régnier) macht sich übrigens vorzüglich in diesem Kostüm. Man könnte also vermuten, der Film setze die Uniform als Bestimmung (fürwahr, eine sehr deutsche Idee, siehe „Der letzte Mann“). Sein Spirou jedoch hadert, als quasi-moderne Figur, mit ihr. Dabei ist ihre Farbe unwiderstehlich: ein prächtiges Bordeauxrot. Das gab es bis Bravo noch nie in der Serie, sonst ist das Rot immer heller, leuchtender, unschuldiger. (Bei Schwartz& Yann ist die Pagenuniform sogar wehrmachtsgrau, mit leichtem Einschlag ins Grün, was eine unansehnliche Klugheit besitzt.) Aber das Bordeaux des Films ist eine echte Verlockung, gedeckt und ungeheuer nobel, ein Ansporn, einer Figur anderes Format zu geben - ein Anker phantasievollen Traditionsbewusstseins in einem Meer der Gleichgültigkeit.
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