Kritik zu Die andere Seite von allem
Die serbische Filmemacherin Mila Turajlić hat in ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm ihre Mutter Srbijanka porträtiert, eine Wissenschaftlerin, Politikerin und Mitglied der »Otpor!«-Bewegung, die Milošević stürzte
Die Wohnung wirkt immer noch großbürgerlich, mit schönen alten Möbeln, riesigen Zimmern und Fenstern, die noch aus den frühen Tagen des Hauses stammen. Dieses Haus im Zentrum von Belgrad gehörte einmal der Familie Turajlić, jetzt wohnt Srbijanka Turajlić mit ihrer Tochter darin. Allerdings nur in einem Teil der Wohnung, denn das Haus wurde nach dem Sieg der Tito-Kommunisten in den vierziger Jahren enteignet. Und die Wohnung geteilt. Wie eine Klammer umfassen die Türen, die in die andere Seite führen, den Film von Mila Turajlić. Zu Beginn sehen wir, wie Srbijanka die Klinken zum anderen Teil putzt; immer wieder fängt die Kamera im Laufe des Films die Türen ein, die einem wie eine beständige Mahnung vorkommen.
Wenn Kinder Filme, wenn auch dokumentarische, über ihre Eltern drehen, dann ist man zu Beginn ein bisschen skeptisch. Aber in »Die andere Seite von allem« erweist sich die persönliche Perspektive als ein ganz großer Glücksfall. Denn dieser Film argumentiert immer politisch, gerade auch in der persönlichen Auseinandersetzung. Weil sich an der Person von Srbijanka Turajlić die Kämpfe und Befindlichkeiten in Jugoslawien und Serbien festmachen lassen: In ihr spiegelt sich die Geschichte des Landes, wie der Film, der auch ein Porträt dieser kämpferischen Frau ist, immer wieder deutlich macht. Srbijanka sollte Anwältin werden wie alle zuvor in der Familie Turajlić, aber sie entschied sich angesichts der Verhältnisse für ein Ingenieursstudium und lehrte Mathematik an der Belgrader Universität, die zu einem Zentrum des Widerstands gegen das spätere Milošević-Regime werden sollte.
»Ich glaubte, Tito würde nie sterben«, sagt Srbijanka über die langen sozialistischen Jahre, aber sie war, wie viele, eine Parteigängerin der Idee Jugoslawien. Sie wusste, dass es damit vorbei war, erzählt sie, als 1991 eine Volkszählung veranstaltet wurde, aber man auf dem Formular nicht mehr unter Nationalität Jugoslawien ankreuzen konnte. Es sind solche Randbemerkungen, die diesen Film so interessant machen, wie auch die Bemerkung, dass ihre Freunde immer noch dreimal an die Tür klopfen – die ehemalige Staatssicherheit klopfte nur einmal. Srbijanka Turajlić war die vielleicht wichtigste Protagonistin der »Otpor!«-Bewegung gegen Milošević, die die riesige Demonstration organisierte, durch die am 5. Dezember 2000 das Regime fiel. Die resolute Kettenraucherin wurde stellvertretende Bildungsministerin, sieht aber die Gegenwart Serbiens kritisch, wenngleich auch nicht ganz pessimistisch. Man könne in diesem Land nicht leben, sagt die Tochter einmal. Aber die Mutter sagt: »Ich denke, man muss immer für Veränderungen kämpfen.«
Am Ende haben die rechten Nationalisten der »Naši«-Bewegung Srbijanka auf eine schwarze Liste gesetzt, und sie muss sogar vor Gericht erscheinen. Und schließlich öffnen sich auch die Türen in der Wohnung nach 60 Jahren, nach einem ganzen Menschenleben. Es ist ein bewegender Moment, als Srbijanka zum ersten Mal die andere Seite betritt. Aber sie sagt: »Mir gefiel unsere Wohnung mit geschlossener Tür besser. Es fühlt sich nicht mehr wie meine Wohnung an.«
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