Grapefruit

»The Big Sleep« (Tote schlafen fest, 1946)

Meine Lieblingsszene aus »The Big Sleep« (Tote schlafen fest) stand fast schon fest, bevor ich den Film überhaupt gesehen hatte. Vor Urzeiten sah ich Fernsehen Peter Bogdanovichs Dokumentation über Howard Hawks, die gespickt ist mit klug ausgewählten Filmmausschnitten. Das liegt so lange zurück, dass ich sie nicht auf Video aufzeichnen konnte, sondern noch mit meinem Cassettenrecorder vor dem Fernseher saß.

Da ich mir die Sendung danach unzählige Male anhörte, lernte ich Hawks' Filme also zunächst vor allem als Hörspiele kennen. Einige Ausschnitte liefen im Original, weshalb sich mir die Stimmen der Darsteller und die Dialoge nachhaltig einprägten. In besagter Szene betritt Humphrey Bogart als Privatdetektiv Philip Marlowe einen Buchladen, der vorgeblich auf seltene Erstausgaben spezialisiert ist, in Wahrheit aber der Tarnung eines florierenden Drogenhandels dient.

Bogart setzt eine Sonnenbrille auf und biegt seine Hutkrempe hoch, um einen verhuscht intellektuellen Eindruck zu erwecken. Im Geschäft trifft er auf eine elegant gekleidete Frau mit Sturmfrisur, der er verfängliche Fragen stellt: »Would you happen to have a 'Ben-Hur' 1860?« Die Verkäuferin verneint. Meinte er die Erstauflage? Nein, die dritte mit dem Druckfehler auf Seite 116. Auch da muss sie passen. Aber dann vielleicht einen Chevalier Audubon von 1840, natürlich als Gesamtausgabe? Nein, im Moment nicht vorrätig. »You do sell books?« fragt Bogart, woraufhin sie verärgert auf die Regale zeigt: »What do those look like, grapefuit?«

Die Szene schlägt am Ende eine hübsche Volte, als Bogart sich verabschiedet, weil er sonst seine Vorlesung über argentinische Keramik verpassen würde. Die falsche Buchhändlerin korrigiert seine Betonung von »ceramics« und klärt ihn auf, dass es keine argentinischen gebe, sondern nur ägyptische. Bogart quittiert ihre unverhoffte, grammatikalisch gleichwohl holprige (»ain't« statt »isn't«) Gelehrsamkeit sarkastisch mit »Oh, you did sell a book once, didn't you?«

Die Szene hat ein Vor- und ein Nachspiel. Bogart hat sich in der Leihbibliothek von Los Angeles bereits in die Materie eingelesen. Danach geht er in das Geschäft gegenüber, wo er seinen Verdacht bestätigt findet, denn dort stößt er auf Dorothy Malone, die als echte Buchhändlerin sofort weiß, dass es die beiden Ausgaben nicht gibt (»Ben-Hur« erschien erst 20 Jahre später). Man erkennt Malone erst gar nicht, denn sie trägt eine standesgemäße Brille, die sie bald aber lasziv absetzt, weil dies der Beginn eines wundervollen Flirts sein könnte.

Die Ben-Hur-Frage war mithin geklärt. Aber was es mit dem ominösen Herrn Audubon auf sich hatte, wollte ich doch noch gern erfahren. Im Bücherschrank meiner Eltern wurde ich nicht fündig und das Internet sollte erst ein Vierteljahrhundert später erfunden werden. Ein Angestellter unserer Stadtbücherei konnte mir weiterhelfen. Der selbstredend bebrillte Herr erwies sich als vollgültiger Ersatz für Malone: Er wusste, dass John James Audubon ein amerikanischer Ornithologe des 19. Jahrhunderts war. Einen Band mit seinen berühmten Vogelstudien gab es nicht, aber ein Lexikon, in dem er stand.

An die Szene aus »Big Sleep« musste ich denken, als ich vor einigen Tagen in der FAZ Hannah Bethkes Artikel über einen Kongress internationaler Bibliotheken las, der gerade in Kreuzberg statt gefunden hatte. Er ist ebenso amüsant wie erschütternd [Lesen Sie selbst]. Die Veranstaltung muss zum Erbarmen gewesen sein. Ist das Image der Leihbüchereien tatsächlich so trist? Nehmen sie sich wirklich längst als Auslaufmodell wahr?

Meine Wahrnehmung ist anders. Für meine Arbeit sind die Bibliothek des Berliner Filmmuseums und die Amerika-Gedenkbibliothek unentbehrlich (letztere nicht nur wegen der vortrefflichen DVD-Sammlung, die Peter Delin begründet hat und die Anna Bohn nun kompetent ausbaut); auch die Bibliothek der Filmhochschule in Potsdam ist hervorragend ausgestattet. Das mag eine Nischen-Perspektive sein. Aber besuchen Sie einmal die AGB und Sie werden feststellen, was für ein lebendiger Ort das ist. Sie ist gefragt, nützlich, also immens wichtig. Aber die Furcht vor der digitalen Konkurrenz muss enorm sein. Würde man sonst auf solchem Firlefanz verfallen, wie ihn Bethke schildert? Auf einen so schlimmen Offenbarungseid wie jene Übung, bei der sich gestandene Fachleute von einem Coach Sprechchöre einpeitschen ließen, die sie der eigenen Sexyness versichern sollten? An der Stelle hätte ich gern an Malone gedacht. Aber mir kamen nur bange Zweifel, ob der Sarkasmus, der Bogart so reichlich zu Gebot stand, hier noch genügen würde.

Ich will die Krise des Buchhandels und der Bibliotheken nicht kleinreden. Sie ist zu ernst, um sie der Realsatire zu überantworten. Es muss entmutigend, ja demütigend sein, das Vertrauen in seine Aufgabe zu verlieren. Aber für einen Wechsel ins Pampelmusengeschäft scheint es mir zu früh. Statt dessen empfehle ich, Neil Gaimans und Chris Riddells Liebeserklärung an diesen schönen Beruf anzuschauen.

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