Roter Sand: Aborigines im Film
»Sweet Country« (2017). Foto: © Grandfilm
Sie wurden enteignet, verschleppt und ermordet. Und es hat lange gedauert, bis das Kino sich für die Aborigines interessierte. Inzwischen ist es von ihrer Kultur fasziniert
Das Land mag ihnen geraubt worden sein, aber es ist noch immer ihr Verbündeter. Sam und seine Frau Lizzie sind selbst zu Fuß ihren berittenen Verfolgern immer einen Schritt voraus. Sie bewegen sich durch Stammesgebiet, in einer rauen, unerbittlichen Natur, zu der kein Weißer je eine so tiefe Verbindung herstellen wird wie das Aborigine-Paar.
Sie sind auf der Flucht, weil der Farmarbeiter Sam in Notwehr einen benachbarten Rancher erschossen hat. Der Getötete war neu in die Gegend gezogen, er kam verroht aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Aber ein Rassist war er gewiss schon davor, einer, der alles hasst, was anders ist. Eines Nachts nahm er sich Lizzie, voller Verachtung und mit schäbiger Lust, aber Sam hat ihn nicht aus Rache getötet, sondern um sich und seine Familie zu schützen.
Der Polizeioffizier, der sie jagt, überlebt in der Wüste nur, weil Sam ihm sein Wasser überlässt. Damit besiegelt er sein eigenes Schicksal. Bei der Rückkehr in die Stadt erzählt der Gerettete seiner Geliebten von der Wildnis, die er durchquert hat. Er nennt sie ein sweet country und könnte sich vorstellen, dort später einmal Vieh zu züchten. Diese Süße scheint nicht zu passen zu der unbarmherzigen Natur, der er beinahe unterlegen wäre. Aber die australische Landschaft erscheint ganz besonders majestätisch in Filmen über Aborigines. Sie feiern den offenen Horizont, den weiten Himmel, am liebsten getaucht in die leuchtenden Farben des Sonnenuntergangs. Selbst die besten, die ernsthaftesten Filme mögen auf dieses Postkartenmotiv nicht verzichten. Aber in wessen Namen beschwören sie diese Schönheit? Stehen sie auf der Seite derer, denen das Land einst gehörte, oder derer, die es ihnen nahmen?
Das Gefängnis der Abkunft
Es gäbe viel mehr als Opfergeschichten zu erzählen, Geschichten von Helden aus zwei Weltkriegen, von Bürgerrechtlern und Künstlern. In The Sapphires immerhin werden Aborigines zu Protagonisten einer musikalischen Komödie, aber unkompliziert ist auch sie nicht. Wenn im Kino australische Ureinwohner auftauchen, geht es unweigerlich darum, wie Abkunft die Identität bestimmt.
Den Figuren sind engste Grenzen gesetzt. Auf einen genuinen Star aus ihren Reihen warten die Aborigines bis heute vergeblich. Aber es gibt einen großartigen Schauspieler, der ihnen zumindest ein Antlitz gibt: David Gulpilil. 1970 trat er in »Walkabout« zum ersten Mal auf, als Junge, der den titelstiftenden Initiationsritus in der Wildnis absolviert, ein Debütant von schlankem, noblem Wuchs, dessen Körper sich auch erotisieren ließ. Seither hat er in 37 Filmen gespielt, darunter »Crocodile Dundee« und »Australia«, wo sich 2008 für ihn ein Kreis schließt: Da ist Gulpilil der Zauberer, der einem kleinen Jungen den walkabout aufgibt. Seine Filmografie verzeichnet einen Bruchteil der Credits, die seine weißen Kollegen Bryan Brown oder Jack Thompson in dieser Zeit anhäuften. In »10 Kanus, 150 Speere und 3 Frauen« von Rolf de Heer hat er eine seiner schönsten Rollen. Zu Beginn schlägt seine Erzählstimme die Zuschauer in den Bann. In ihrem sonoren Klang scheint die Einheit von Leben und Erzählen aufgehoben. Sie wiegt einen in der Gewissheit, dass das Andere uns nicht fremd, sondern vertraut sein könnte. Während der Dreharbeiten wurde Gulpilils Sohn Jamie Opfer eines rassistischen Angriffs, woraufhin David dem Alkohol verfiel: Opfergeschichten, wohin man auch blickt.
Koloniale Verbrechen
Niemand kann genau sagen, wie viele Aborigines bei der Ankunft der ersten Europäer auf dem Kontinent lebten. Schätzungen schwanken zwischen 300 000 und einer Million. Als Captain Cook 1770 dort ankerte und das Land für die englische Krone in Besitz nahm, hielt er es für unbewohnt. In den 1780er Jahren begann die Kolonisierung, zunächst in der Botany Bay. Die ersten Begegnungen der Kulturen sollen friedlich verlaufen sein. In Hollywoodfilmen, die in der damaligen Strafkolonie Australien angesiedelt sind – »Sklavin des Herzens« von Alfred Hitchcock und »Schiff der Verurteilten«, inszeniert vom gebürtigen Australier John Farrow –, spielen Aborigines praktisch keine Rolle; bei Hitchcock wird Ingrid Bergman vom Anblick eines einheimischen Schrumpfkopfes terrorisiert.
Durch von den Europäern eingeschleppte Epidemien und den Kampf um Land, Wasser und Bodenschätze sank die Zahl der Ureinwohner bis 1920 auf 60 000. Die historisch verbürgten Massaker vom Myall Creek und Cape Grim wurden im Kino bislang nicht explizit aufgearbeitet. Die Schafzucht beraubte die sesshaften unter den Aborigine-Stämmen ihrer Lebensgrundlage. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Protektorate (Reservate) geschaffen; erst 1976 sprach die Regierung den Ureinwohnern Landrechte zu. Ihre vollen Bürgerrechte hatten sie neun Jahre zuvor erhalten; bis dahin wurden die »Boongs« (das ist das australische Synonym für »Nigger«) der Fauna zugerechnet. Von den 1920er Jahren an wurden, aus einer barbarischen Auffassung von Fürsorge heraus, Hunderttausende Mischlingskinder gewaltsam ihren Müttern entrissen und in Heimen kaserniert. Bis 1973 war diese Rassentrennung übliche Praxis. Philip Noyces »Long Walk Home, der von der Flucht dreier Mädchen erzählt, ist die eindringlichste Chronik dieser »gestohlenen Generation«. Als der Film 2002 herauskam, stand eine offizielle Entschuldigung der Regierung noch aus.
Der Weg in die Moderne
Dem Kino waren Aborigines lange Zeit unerheblich. Erst in den 1970er Jahren weckten sie, im Schlepptau der politischen Fortschritte, das Erzählinteresse von Regisseuren wie Nicolas Roeg (»Walkabout«), Peter Weir (»Die letzte Flut«, 1977) und Fred Schepisi (»Die Legende von Jimmie Blacksmith«, 1978). Bis dahin gehörten sie vornehmlich zum Inventar australischer Western. »Das große Treiben« von Harry Watt liefert 1946 das Modell hierfür. Die erste in Australien gedrehte Ealing-Produktion handelt von einem Viehtrieb als Teil der Kriegsanstrengung: In Erwartung der japanischen Invasion entschließt sich 1942 ein Farmer, eine Herde von 1000 Rindern vom Northern Territory nach Queensland zu bringen. Es gilt, 1500 Meilen zurückzulegen. Der erste Cowboy, den er für das tollkühne Unternehmen gewinnen kann, ist der Aborigine Jackie (der allerdings zunächst die Erlaubnis seiner Frau einholen muss). Er ist ein ebenso erfahrener Viehtreiber wie der Aborigine Nipper, der dem Treck zudem als Fährtensucher nützlich ist. Es herrscht freundschaftliches Einvernehmen in der bunt zusammengewürfelten Mannschaft, der auch Frauen angehören. Baz Luhrman greift dieses Motiv 2008 in »Australia« wieder auf, vermittelt aber nie ein echtes Gespür für die unerhörten Strapazen dieses overlanding – die Landschaft wirkt hier nurmehr wie ein digitaler Effekt.
Bei Watt wird der Aufbruch der Herde von Rauchsignalen begleitet; eine Abordnung von Stammesangehörigen gibt friedliches Geleit. Sie blickt von einem Felsen auf den Viehtrieb herab, was an die Inszenierungsstrategien von Hollywoodwestern erinnert. Während diese jedoch die Bedrohung betonen, die von den Indianern ausgeht, gibt Watt seinem Tableau eine idyllische Anmutung: Aborigines sind im Kino selten Aggressoren, sondern Erleidende. Auch in »Das große Treiben« geht es zwar um die genretypische Unterwerfung einer feindseligen Natur. Aber dass durch die weiße Besitznahme eine ältere Zivilisation zerstört wurde, klingt sacht an, als Jackie abends beim Lagerfeuer davon singt, wie das Land war, als es noch seinem Volk gehörte. Die Wehmut dieses Augenblicks ist beiläufig. Und doch scheint kurz die Möglichkeit auf, dass es im australischen Western um Rückerstattung an die Ureinwohner gehen könnte. In »Quigley, der Australier« ist diese Utopie, wenn auch reichlich paternalistisch, ausformuliert. Dort wechselt ein amerikanischer Scharfschütze voller Abscheu die Seiten, als er entdeckt, dass ein rassistischer Farmer (»Wir tragen die Zivilisation in die Steinzeit!«) ihn engagiert hat, um Aborigines zu jagen. Fortan wird er zum Rächer und Verteidiger ihrer Kultur.
Warwick Thorntons »Samson und Delilah« überführt 2009 die Sehnsucht nach einer unwiderruflichen Heimat in die Gegenwart. Seine jugendlichen Titelhelden fristen, wie Indianer im Reservat, ein Dasein von erniedrigender Monotonie. Sie muss gewaltsam aufgebrochen werden, durch Diebstahl und Flucht. Samson ist abhängig von Schnüffelstoffen (das ist, weit mehr als der Alkohol, die Droge der Wahl in Aborigine-Filmen), Delilah besitzt Talent als farbenfreudige Malerin, an dem die Weißen aber kein Interesse nehmen. Als sie am Ende eine verfallene Farm für sich herrichten, setzen sie ein Siegeszeichen gegen die lähmenden Verhältnisse.
Das unergründliche Schweigen
Während das Brauchtum von Indianern meist unter dem Vorzeichen der Gefährdung weißer Siedler steht, wird das der Aborigines bald zu einem vielschichtigen Faszinosum. Von Film zu Film verdichtet sich eine eigene Ikonographie: die Wandzeichnungen und rituellen Gesänge; die langen Speere der Jäger, die stolz in den Boden gepflanzt werden (der Bumerang kommt im Kino als Waffe nur selten zum Einsatz); die Linien, die beim Initiationsritus in die Brust der Geprüften geschnitten werden; die Gesichtsbemalungen; das Gleichgewicht, das die Männer halten, während sie ein Bein so anwinkeln, dass der Fuß am Knie des Standbeins Halt findet; schließlich die Nacktheit, der westliche Scham fremd ist.
Unverzichtbar ist das unergründliche Schweigen, das zum Unterpfand der Würde wird. Aborigines sind selten leutselig im Kino. Die munter zerstrittene Gruppe der Soulsängerinnen in »The Sapphires« bildet eine heitere Ausnahme, Jimmie Blacksmiths kindlicher Wunsch nach Assimilation verwandelt sich bald in einen zürnenden Wortschwall. Sam droht in »Sweet Country« hingegen den Gerichtsprozess zu verlieren, weil er unendlich lange zögert auszusagen. Man kann nicht mit Gewissheit sagen, ob das Schweigen den Figuren innewohnt oder vom Drehbuch auferlegt wird. Natürlich ist es eine stumme Anklage. Es besteht darauf, dass es Geheimnisse gibt, die man nicht mit den Weißen teilt.
Assimilation ist Auslöschung
Diese Fremdheit weckt in »Die letzte Flut« ethnografische Neugier. Der Abspann führt den Namen eines Beraters für aboriginal matters auf. Ein unerfahrener Anwalt wird von der Rechtshilfe in Sydney verpflichtet, einige Aborigines zu verteidigen, denen der Mord an einem Kameraden zur Last gelegt wird. Seine Frau, obzwar Australierin der vierten Generation, hat noch nie einen Aborigine gesehen. Auch er muss sich erst in die Materie einlesen. Aus dieser Perspektive erfährt der Zuschauer, dass es keine einheitliche Identität bedeutet, Aborigine zu sein. Das ist von zentraler Bedeutung für die Beweisführung im Prozess. Ein erfahrener Kollege belehrt den Anwalt, dass in der Stadt die Stammeszugehörigkeit keine Rolle mehr spielt (und die dort lebenden Ureinwohner ebenso depressiv sind wie die Weißen), seine Verteidigung ruht jedoch auf der These, seine Mandanten hätten das Gesetz ihrer Vorfahren befolgt.
Der Richter bemüht sich, farbenblind zu sein. Er will die Rechtsgüter unvoreingenommen gegeneinander abwägen. Eine solch demonstrative Korrektheit bestimmt auch die Gerichtsverhandlungen in Werner Herzogs »Wo die grünen Ameisen träumen« (1984) und in »Sweet Country«. Das heißt nicht, dass ihr Ausgang offen ist. Die gesellschaftlichen Prämissen, unter denen über Eingeborene Recht gesprochen wird, manifestieren sich schon allein darin, dass sie auf die Bibel schwören müssen. Filme über Aborigines hegen wenig Zutrauen in die Segnungen der Missionierung; auch wenn diese einfallsreiche Wege beschreitet, etwa christliche Choräle in indigene Dialekte übersetzt oder die Kirchen schmückt mit Bildnissen der Madonna mit Kind, die ein einheimisches Antlitz tragen. Die Anpassung an westliche Sitten ist kein Versprechen auf Glück. Jimmie Blacksmith gelingt sie nur um den Preis eines mulmigen Opportunismus – er kennt »seinen Platz« und kann sogar eine weiße Farmerstochter heiraten. Aber als er sich um seinen verdienten Lohn betrogen fühlt, nimmt er blutige Rache und entledigt sich dabei immer mehr seiner weißen Kleidung. Ahnt er, dass Assimilation nur die Auslöschung seines Selbst bedeutet?
Eine wachsame, weisere Kultur
Bei Werner Herzog leisten die Angehörigen eines Stammes passiven Widerstand gegen den Raubbau, den eine Bergbaugesellschaft an ihrer Heimat betreibt. Sie wollen den Ort bewahren, an dem die grünen Ameisen träumen – ein Mythos, den Herzog erfunden hat, anmaßend und ohne Not, denn es gäbe reichlich Alternativen in der Realität. Die Eingeborenen besetzen heilige Orte, darunter den ehemaligen Standort eines verehrten Baumes in einem Supermarkt, dessen Besitzer dort nur Produkte platziert, die ohnehin niemand kauft. Sie werden zum Gedächtnis einer Landschaft, die verschwindet. Einer von ihnen spricht einen Dialekt, der mit ihm aussterben wird.
Für Herzog besteht kein Zweifel, dass sie eine gesündere, wachsamere, weisere Kultur repräsentieren. Die weiße Zivilisation weiß die Warnzeichen nicht zu lesen und steuert auf ihren Untergang zu. Wie könnte sie auch überlegen sein, wenn nicht einmal die Fahrstühle im Sitz des Bergbaukonzerns funktionieren? Allerdings bereitet den Eingeborenen das Flugzeug viel Spaß, das ihnen die Firma aus Verlegenheit schenkt. Seine Tragfläche misst vier Speerlängen, und einer der Stammesangehörigen kann es starten und einem ungewissen Ziel entgegensteuern.
Kulturtransfer findet im Kino zugunsten der Aborigines statt. Ihr Brauchtum überträgt sich verbindlich auf die Weißen. Der Initiationsritus in »Walkabout« wird auch den beiden Geschwistern auferlegt, die sich in der Wüste verirrt haben. Diese Umwidmung ist folgenreich fürs Kino. Es begibt sich in den Bann der Zeremonien und Riten. Ferne Gesänge locken den Amerikaner Quigley, den Aborigines in der Wüste retten. Er spürt, dass sie ein tieferes Wissen über sein Wesen besitzen. Dem Anwalt in »Die letzte Flut« ergeht es ebenso. Die Begegnung mit den Aborigines verfolgt ihn bis in seine Träume. Er wird Zeuge eines mächtigen Zaubers, denn sie besitzen das Privileg, zwischen An- und Abwesenheit zu wählen. Eine Andersartigkeit ergreift Besitz von ihm. Am Ende wird er mehr über sich selbst wissen.
Die Tonspur von Weirs Film vollzieht dies nach. Die zunächst einer westlichen Melodik und Klangfarbe folgende Musik tritt zusehends hinter die tiefen Töne des Didgeridoos zurück, des archaischen Blasinstruments. Aber die Aborigines sind nur Boten der ökologischen Apokalypse, die sich ankündigt, nicht deren Verursacher. Der Traum ist der Schatten der Wirklichkeit. Und es ist kaum je ein böser Zauber, den ihre Zeremonien heraufbeschwören. Er dient dem Überleben. Der Zaun, der in Noyces »Long Walk Home« eigentlich als Symbol der Rassentrennung fungiert, ermöglicht es den drei flüchtenden Kindern, eine telepathische Verbindung herzustellen zu ihrer Mutter. Verblüffend, wie bereit die Filme sind, sich einer solch magischen Vorstellung der Welt zu öffnen; nicht nur weil sie eine visuell bestechende Macht besitzt. Wenn das Kino als Traumverwirklicher agiert, stellt sich wieder die Frage: In wessen Namen?
»Sweet Country« scheint der Glaube an Magie nicht zu Gebot zu stehen. Dennoch wohnt ihm diese Dimension inne, denn er ist eine der schönsten filmischen Annäherungen an die Vorstellung, die dem traditionellen Weltverständnis der Aborigines zugrunde liegt: die der Traumzeit. In »Die letzte Flut« wird sie von einer Anthropologin erklärt. Sie spricht von zwei Zeitebenen, einer objektiven, in der die Weißen leben, und einer spirituellen, unendlichen, die realer ist. »Sweet Country« überträgt das in die Montage. Sie verschachtelt unaufdringlich die Zeitebenen, blendet in kurzen, stummen Zwischenschnitten zurück und voraus. Bald löst sich dieses Montageprinzip aus der zeitlichen Chronologie, wendet sich einer anderen Wirklichkeit zu. Keine Figur ist am Ende mehr so, wie sie zu Anfang war. Die Rassisten werden nicht geläutert, aber die anderen ahnen, wie das Leben sein könnte.
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