Kritik zu Naomis Reise
In einer Mischung aus dokumentarischen und fiktiven Elementen erzählt Frieder Schlaich von einem Mordprozess und wirft dabei einen analytischen Blick auf das deutsche Justizsystem und seine strukturelle Voreingenommenheit
Naomi hat feste Prinzipien. So steht für die 20-jährige Peruanerin fest, dass sie niemals in das Land reisen wird, in dem ihre ältere Schwester Mariella brutal ermordet wurde. Doch ihre Mutter Elena lässt ihr keine Ruhe. Sie will unbedingt nach Berlin fliegen, um im Strafprozess als Nebenklägerin aufzutreten. Von ihr lässt sich Naomi doch noch zum Mitzukommen bewegen.
In Berlin bestätigen sich bald die schlimmsten Befürchtungen der Frauen. Im Rahmen des Strafprozesses werden sie mit einer Justiz konfrontiert, die ihnen kalt und abweisend erscheinen muss. Ihre Wut und ihre Trauer finden keinen Platz im Gerichtssaal, und das sicher auch zu Recht. Trotzdem hat die Vehemenz, mit der der vorsitzende Richter auf Nüchternheit pocht, etwas Irritierendes. Sein Verhalten zementiert die ungleichen Machtverhältnisse. Mutter und Schwester des Opfers werden als Nebenklägerinnen zwar geduldet, bleiben aber im Gericht im doppelten Sinne Fremde.
Regisseur Frieder Schlaich unterläuft die Konventionen des Gerichtsdramas schon mit der Besetzung. Die Richter und Anwälte werden von Richtern und Anwälten verkörpert. In die fiktive Geschichte von dem Mord, den der Angestellte Bernd Hoffmann an seiner aus Peru stammenden Ehefrau verübt hat, mischen sich dokumentarische Elemente. Das verändert den Blick. Die Details des Verfahrens sind exemplarisch und erweisen sich doch als austauschbar. Entscheidend sind die grundlegenden Strukturen des Prozesses, die sich Tag für Tag wiederholen. Und eben die hinterlassen einen eher zwiespältigen Eindruck.
Der hehre Grundsatz einer kühlen, sich gegen Rachegelüste immunisierenden Objektivität hat formale Rituale hervorgebracht, denen Anwälte, Staatsanwälte und Richter folgen. So zeichnen Schlaich und seine Kamerafrau Micaela Cajahuaringa, deren distanzierte Kadrierung den rituellen Charakter des Verfahrens perfekt abbildet, das Porträt eines in sich erstarrten Justizsystems, das sich selbst nicht hinterfragt. Der Film stellt die Positionen der Verteidigung und der Nebenklägerinnen unkommentiert nebeneinander. Bernd Hoffmanns Anwalt zeichnet die Tote als berechnende Goldgräberin, die ihren Mann ausgenutzt und dann verlassen hat. Aus der Perspektive der Zeugen der Anklage liegt die Sache ganz anders. Für sie ist Hoffmann ein grausamer Tyrann, der ganz bewusst eine mittellose Frau aus Südamerika geheiratet hat, die er nach Belieben kontrollieren und unterdrücken konnte.
Welche der beiden Sichtweisen eher der Wahrheit entspricht, lässt »Naomis Reise« weitgehend offen. Schlaich interessieren die Mechanismen, nach denen die Wahrheitsfindung im Gericht abläuft. Und deren Schwachstellen legt er schonungslos offen. In einer Zeit, in der der nordwestfälische Justizminister die Richter auf »das Rechtsempfinden der Bevölkerung« einschwören will, erinnert Schlaich daran, dass die rassistischen und sexistischen Vorurteile, die ohne Zweifel auch Teil des Volksempfindens sind, sich auch so schon in den Strukturen der Gerichte eingenistet haben.
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