Das Verschwinden der Nacht

»Mord im Orient-Express« (2017). © 20th Century Fox

Zum Sehnsuchtspotenzial, welches das Kino entfalten kann, zählen gerade auch Genüsse, die man selbst nie ausgekostet hat. Wann immer ich in jüngeren Jahren nächtliche Reisen mit der Bahn unternahm, hat es nie für ein Abteil im Schlafwagen gereicht. Aber selbstverständlich ahne ich, welch wunderbare Annehmlichkeiten mir dabei entgingen.

Dank des Kinos weiß ich es vielleicht sogar noch besser, als aus eigener Anschauung. Es ist ja nicht gesagt, ob ich tatsächlich besser als im Liegewagen geschlafen hätte. So oder so habe ich alles Recht, das Abhandenkommen des Nachtzugs zu bedauern. Die Deutsche Bahn hat sich von ihm bereits beim Fahrplanwechsel 2016/17 verabschiedet. Seit ein paar Tagen hat nun Frankreich nachgezogen. Jetzt verkehrt auch der berühmte "Train bleu" nicht mehr, der Paris mit dem Süden verband, namentlich Marseille und Nizza.

Sie kennen ihn vielleicht aus Costa-Gavras' »Mord im Fahrpreis inbegriffen«, bestimmt aber aus den letzten Filmen von Jean-Pierre Melville. In »Vier im roten Kreis« erwischt ihn Kommissar Mattei (Bourvil) erst im Augenblick – gewiss aus Absicht, um eine eventuelle Befreiungsaktion zu verhindern -, als er den ihm anvertrauten Häftling Vorgel (Gian Marie Volontè) nach Paris überstellen soll. Dem Gangster gelingt dann aber doch die Flucht, der Kommissar lässt den gesamten Zugverkehr lahm legen und ihn von einer Hundertschaft Polizisten und Spürhunden sowie per Hubschrauber jagen. In »Der Chef« überbietet Melville dies spektakuläre Sequenz noch. Sein Ehrgeiz zielt darauf, den ersten Eisenbahnraum per Helikopter der Filmgeschichte zu inszenieren. Die Trickaufnahmen sind auf der Höhe ihrer Zeit (Melville scheute Rückprojektionen nicht), aber vor allem ist mir der Anblick des Masterminds des Überfalls, des amerikanischen Banditen Simon (Richard Crenna), in seinem Schlafwagenabteil im Gedächtnis. Er trägt Pantoffeln, was man so wohl nur in französischen Gangsterfilmen sieht.

Das Aus für den "Train bleu" fällt zusammen mit dem Frankreichstart der Wiederverfilmung von »Mord im Orient Express«. Leider ist auch dieser Zug, der von 1883 an zwischen Paris und Istanbul verkehrte, in der Realität längst krank geschrumpft worden. Nun wird die Erinnerung an die glamouröseste Art des Fernverkehrs praktisch nur noch vom "Royal Scotsman" wachgehalten; wenngleich auch in Osteuropa, Asien und Skandinavien noch einige Nachtzuglinien verkehren. Ihnen gebricht es aber weitgehend an Glanz, ihr Betrieb verdankt sich vor allem topographischer Notwendigkeit. Über Nacht reisen zu müssen impliziert, dass große Distanzen zu überwinden sind. Das Schlafwagenabteil verhieß, dass bereits die Fahrt Erholung sein konnte. Die Zugreise entsprach also einem menschlichen Zeitmaß. Nicht von ungefähr pflegte mein Freund Bob Osborne zu sagen: "If God had wanted Man to fly he wouldn't have invented the railroad".

Dieses Gefühl für Dauer und die Einheit des Raums bilden einen filmischen Rahmen par excellence. Eines der schönsten Beispiele überhaupt ist »Nachtzug« von Jerzy Kawelerowicz, wo der Morgen mit einer Katharsis einhergeht. Mit der Ankunft in Lodz ist ein Moment der Wahrheit erreicht. Übrigens eine der wenigen Nachtreisen im Kino, die sich auf ein Land beschränken. Deren Reiz liegt sonst in der (vorbehaltlichen) Überquerung von Grenzen. Der raumzeitliche Rahmen schmiedet dabei Zufallsgemeinschaften zusammen. Es bilden sich Exklaven, die allerdings im Notfall zur Tuchfühlung mit der exotischen Umgebung, der Witterung oder politischen Umwälzungen gezwungen sind. Die Fremdheit wird dabei selten überwunden, wie eine hübsche Szene aus Hitchcocks »Eine Dame verschwindet« zeigt. Darin entfährt den eingefleischten Briten Charters und Caldicott, die während aller Turbulenzen immer nur an Cricket denken, ein junggesellenhaft mokantes "Ländlich gesund!", als sie eine propere einheimische Kellnerin erblicken. Sie tauchen ebenfalls ein Jahr später in Carol Reeds »Night Train to Munich« auf, der vom selben Drehbuchautoren-Gespann Launder & Gilliatt stammt. Er ist von 1940, einer der ersten Anti-Nazi-Filme. Die Zwei wundern sich, dass es in der Bahnhofsbuchhandlung keine einzige britische Zeitung mit Sportseite gibt, sondern nur hunderte Exemplare von "Mein Kampf".

Am nächsten Sonntag widmet 3SAT dem Eisenbahnverkehr einen Thementag. Als Krönung läuft zur besten Sendezeit Sidney Lumets erste Verfilmung von Agatha Christies Orient-Express-Roman. Sie gehört einer ganz anderen Klasse an als Branaghs Nachzügler. Dem engen Bündnis, das Kino und Eisenbahn von Anfang an schlossen, setzt Lumet ein Glanzstück auf. Schon der Auftakt ist magistral. Hektisches Treiben herrscht da auf dem Bahnhof Sirkeci in Istanbul. Aufdringliche Händler bieten ihre Waren feil, Dienstmänner verladen die eleganten Gepäckstücke. Die strengen Kellner des Speisewagens prüfen die Güte der Weine, begutachten Fleisch und Gemüse, kosten die frischen Austern. "Die ganze Welt reist heute Nacht", erklärt der Schaffner verlegen Hercule Poirot, der um Haaresbreite kein Abteil mehr gefunden hätte. Wie auf einem roten Teppich defiliert eine illustre Gesellschaft aus Adel, diplomatischem Corps, Industrie und Theater an ihnen vorbei.

Als sie allesamt an Bord sind, fährt die Kamera feierlich an den tintenblauen Waggons entlang, die Richard Rodney Bennets Musik drängt im Walzertakt einem Crescendo entgegen, bis die Sirene ertönt und die Dampflok sich in Bewegung setzt. Fürwahr, dies muss ein König unter den Zügen gewesen sein! In ihm zu reisen, war einst die exotischste und luxuriöseste Art des Reisens. Er war ein rollendes Grandhotel, das jede erdenkliche Bequemlichkeit bot. Die Abteile waren in prunkvollem Jugendstil gestaltet, die Wände mit poliertem Mahagoni ausgeschlagen und ihr Boden mit Gobelins bedeckt. Sie müssen allerdings ziemlich hellhörig (wie Poirot alsbald feststellt) und vergleichsweise eng gewesen sein (was dem Handgemenge James Bonds mit einem feindlichen Agenten in »Liebesgrüße aus Moskau« zusätzliche Dringlichkeit verleiht). Als erste transeuropäische Expressverbindung versprach er Romantik und Intrige. Der hohe Fahrpreis garantierte Exklusivität, die Strecke jedoch eine dubiose Internationalität der Reisegesellschaften: Man reiste standesgemäß, wusste allerdings nie genau, welches Geheimnis die Mitreisenden verbergen. Spätestens als sein Gegenüber im Speisewagen zur Seezunge Rotwein bestellt, ist Bond auf der Hut.

Diskret wachte das unverwechselbare, blaue Nachtlicht im Express über ungezählte Verschwörungen und Morde. Diverse heiße und der Kalte Krieg änderten die Streckenführung; für die Spionageromane von Graham Greene, Eric Ambler und Co. war dies das ideale Ambiente. Filmemacher bevorzugten in der Regel die Südroute über Belgrad und Triest. Im Kino bewegt sich der Express meist in westlicher Richtung, strebt fort von den Unwägbarkeiten Vorderasiens. In die gegenläufige Richtung fährt er indes in dem Kurzfilm, den Jean-Pierre Jeunet mit Audrey Tautou für eine Werbekampagne eines nicht weniger berühmten Parfüms gedreht hat (www.chaneln5.com), einem zweieinhalbminütigen Melodram um verpasste Begegnungen, um die Aura von Orten und Düften. Allerdings weckt der Orient Express im Kino stets den Anschein einer behaglich abgeschirmten Welt, deren mondäne Gewissheiten allenfalls eine Lawine in den Alpen oder ein Schneegestöber auf dem Balkan erschüttern konnte. Lumet erklärte sich den Erfolg seines Films übrigens weder mit dem raffinierten Plot noch der prominenten Besetzung. Sein eigentlicher Reiz, sagte er einmal, liege in der Nostalgie.

 

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt