Zärtlicher Sarkasmus
Diesen November würde ich gern in Nürnberg verbringen. Vielleicht nicht den ganzen Monat, aber zumindest fünf, sechs Tage davon, denn im dortigen Filmhaus wird eine klaffende Lücke geschlossen: Es läuft eine Retrospektive der Regisseurs Antonio Pietrangeli, einem der leise besungenen Helden des italienischen Nachkriegskinos.
Hier zu Lande ist er praktisch unbekannt. Nur »Ich habe sie gut gekannt« ist bei uns auf DVD erhältlich, was wahrscheinlich daran liegt, dass Blacky Fuchsberger darin einen schönen Auftritt hat. Ich selbst habe ihn vor zehn Jahren entdeckt, als zwei seiner Filme in Locarno in einer Reihe über Schauspielerinnen im italienischen Nachkriegskino lief. Ich kannte seinen Ruf als Spezialist für Frauenporträts – Ettore Scola, der mehrere Drehbücher für ihn schrieb, schwärmte in höchsten Tönen von ihm – und stellte in Locarno beglückt fest, wie wohlverdient der war. »La Visita« (Der Besuch, auch: Der Ehekandidat) und »Ich habe sie gut gekannt« waren für mich die Höhepunkte der Retrospektive, Besonders erstaunte mich, wie radikal sie sich in Stil und Erzählradius unterscheiden. In »Ich habe sie gut gekannt« verkörpert Stefania Sandrelli eine italienische Holly Golightly, die zusehends verzweifelt. Scolas Drehbuch navigiert mit tückischer Leichtigkeit durch die lockeren Sitten der 1960er, aber mit jeder neuen erotischen Episode verdüstert sich der Erzählton. »Der Besuch« hingegen hält die klassischen Einheiten von Zeit, Ort und Handlung ein. Er handelt von der ersten Begegnung zweier gegensätzlicher Figuren, die sich durch eine Kontaktanzeige kennengelernt haben. Pina (Sandra Milo), die in einer landwirtschaftlichen Kooperative arbeitet, hat ihren Brieffreund Adolfo (Francois Périer), einen Buchhändler aus Rom, für einen Sonntag in ihr Dorf in der Lombardei eingeladen – und die Begegnung nimmt eine ganz andere Entwicklung, als beide sich erhofft hatten.
Pietrtangelis Oeuvre ist schmal. Er hat wischen 1953 und 1968 nur rund ein Dutzend Langfilme realisiert und war an drei Omnibusfilmen beteiligt. Er starb während der Dreharbeiten zu »Wo, wann, mit wem?«, den sein Freund Valerio Zurlini fertigstellte.
Zwei seiner Filme konnte ich später als Reprisen in Paris sehen. Auf DVD gab es zu diesem Zeitpunkt wenig von ihm; »Adua und ihre Gefährtinnen« war in England erschienen und »La Visita« gab es in Italien mit englischen Untertiteln. Allerdings stand ich nicht allein mit meiner Neugierde auf diesen Filmemacher. Seither lief in Lyon eine kleine, im New Yorker MOMA eine größere Retrospektive und das Österreichischen Filmmuseum stellte ihn in einer doppelten Werkschau zusammen mit Zurlini vor. Nun also Nürnberg. Großartig.
Das Filmhaus zeigt vom 3. November an fast alle seiner Regiearbeiten, es fehlen nur der vergnügliche "Das Spukschloss in der Via Veneto" (das tatsächlich in einem ganz anderen Viertel Roms steht) und »Das Mädchen aus Parma« (filmhaus.nuernberg.de). Der gelernte Arzt war als Co-Autor von Viscontis »Besessenheit« und »Die Erde bebt« ein Neorealist der ersten Stunde. Seine Regiearbeiten stellen ein Bindeglied zwischen dieser Bewegung und der Commedia all' italiana dar, die nicht etwa deren Verrat, sondern vielmehr ihre volkstümlich satirische Fortsetzung ist. Pietrangeli ist ein skeptischer Chronist des Booms, der sich 1953 in seinem Debüt »Sonne in den Augen« schon abzeichnet und in »Ich habe sie gut gekannt« seinen tristen Höhepunkt erreicht. Die Zusammenschau beider Filme ist allein schon soziologisch aufschlussreich. In der Schilderung des Kreuzwegs, den Irene Galter in seinem ersten und Stefania Sandrelli in seinem vorletzten Film beschreiten, rundet sich zugleich sein Werk auf traurig beglückende Weise.
Mit zärtlichem Sarkasmus zeichnet er Frauenfiguren, die in einer teilnahmslosen Welt isoliert sind. Von »Sonne in den Augen« an erzählt er immer wieder von der Entwurzelung junger Frauen aus der Provinz, die in der Großstadt kein romantisches Glück finden, wohl aber auf weibliche Solidarität stoßen können. Sein Debütfilm klingt auf einer wehmütigen Note weiblicher Selbstermächtigung aus. Er ist ein Feminist avant la lettre. »Der Besuch« ist in dieser Hinsicht einer seiner bezeichnendsten Filme. Die Begegnung hätte leicht zur gefälligen Konfrontation zwischen gebildetem Großstadtmenschen und unbedarfter Landpomeranze werden können. Aber Pietrangeli und sein Co-Autor Scola lassen daraus eine Reflexion über die Unwägbarkeit von Intimität werden, sie gehen der Frage nach, wie man seine romantische Integrität angesichts trügerischer Gefühle bewahrt. Im Laufe des Sonntags entdeckt Pina, dass Adolfo beileibe nicht der kultivierte, nette Mann aus den Briefen ist, sondern ein arroganter Schnösel, der verächtlich auf ihre Gastfreundschaft und erotische Verfügbarkeit zählt. Mit jeder Szene offenbart er eine weitere Facette seiner Verworfenheit. Périer kann so etwas hervorragend und Milo verteidigt ihre Figur großartig. Als sie ihn feinfühlig mit seiner Abscheulichkeit konfrontiert, scheint plötzlich eine neue Ebene der Verständigung erreichbar. Er ist fast erleichtert, so gründlich durchschaut zu werden. Ein fragiler Moment der Katharsis: Es ist fast so, als würde die Verteidigung ihrer Würde ihm helfen, ein Stück seiner eigenen wiederzufinden.
Im Kern handelt Pietrangelis Kino vom Scheitern der Entwürfe eines anderen Lebens. Das gilt für die vier Prostituierten, die in »Adua und ihre Gefährtinnen« ein Restaurant eröffnen, ebenso wie für Stefania Sandrelli, die sich in an folgenlose Affären verliert. Die Kamera umfängt seiner Heldinnen mit komplizenhafter Sinnlichkeit; jede der Frauen in »Adua« filmt er in einem eigenen Rhythmus. Nach wenigen Filmminuten spürt man schon, wie innig er seine Darstellerinnen verehrt. Simone Signoret zeigt eine Gabe zu robuster Verliebtheit, wie sie ihr seit »Goldhelm« daheim in Frankreich kein Regisseur mehr angetragen hatte; Emmanuelle Riva weiht derweil den Zuschauer diskret in die wahren Neigungen ihrer Figur ein.
Behände wechselt er den Tonfall, etwa in der drolligen Trauerprozession der Männer, als in dem ansonsten dramatischen »Adua« das Bordell geschlossen wird. Der vorgeblichen Fröhlichkeit, die sich in den Jazzscores von Piero Piccioni und Armando Trovajoli sowie der eleganten Agilität seiner Kameraführung manifestiert, zieht Pietrangeli einen doppelten Boden ein. Wie alle großen Regisseure der Commedia all' italiana erweitert er rabiat die Zuständigkeiten des Komischen. Mit der deftigen Eifersuchtsfarce »Cocü« bescherte er der Bewegung 1964 einen ihrer größten Kassenerfolge. Das ist waschechter, listiger Boulevard (Ugo Tognazzi und Claudia Cardinale sind prächtig), aber sonst kalkuliert er meist damit, dass dem Zuschauer das Lachen eigentlich vergehen sollte.
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