Ein Jahrzehnt, das 15 Jahre dauerte
Gerade erst las ich noch in einem seiner Bücher. Nun erfahre ich, dass Jean-Pierre Jeancolas gestorben ist. Vor zwei Wochen bereitete ich die Einführung zu einem Film von Jean Renoir vor - und dafür gibt es keine bessere Quelle als seine Geschichte des frühen französischen Tonfilms.
Sie trägt gleich zwei wunderbare Titel. Zunächst einmal heißt sie »Le cinéma des francais«, also nicht: das französische Kino, sondern das Kino der Franzosen. Damit ist schon unendlich viel gesagt über den Pakt, den der französische Film in den 1930ern mit seinem Publikum einging. Der Untertitel »15 ans d' années trente« wiederum beharrte darauf, dass besagtes Jahrzehnt vom Durchbruch des Tonfilms bis zum Ende der deutschen Besatzung dauerte.
Es muss Sie nicht genieren, wenn Ihnen sein Name nichts sagt. Vielmehr ist es schade, dass Sie nicht das Glück hatten, ihn kennenzulernen. Französische Filmhistoriker werden hier zu Lande ja allenfalls wahrgenommen, wenn sie entweder Andrè Bazin heißen, Philosophen sind oder aber Filmemacher von dubios großem Ruhm. Letzteres hätte Jean-Pierre mir übrigens übel genommen, denn er hielt große Stücke auf Jean-Luc Godard. Mit der ihm eigenen Autorität entschied er, Truffaut besitze keine filmische Handschrift, Godard aber sehr wohl.
Seine Urteile waren streng. Er legte die Messlatte hoch an. Seine Erwartungen an praktisch jeden Film waren unerbittlich. Ich erinnere mich noch genau, dass in die Anfangsjahre unserer Freundschaft das Phänomen »Willkommen bei den Sch' tis« fiel. Er war bestürzt über dessen visuelle Einfallslosigkeit. Ich gab zu Bedenken, dass nicht alle Komödien so anspruchsvoll inszeniert sein müssten wie die von Blake Edwards, sondern dass es vielleicht von Vorteil sei, wenn sie etwas lau, genügsam und zugänglich daherkämen. Nein, damit konnte er sich nicht zufrieden geben. Es kostete mich Jahre, diesen Fauxpas wiedergutzumachen.
Ich glaube, was ich an ihm besonders schätzte, war die Gründlichkeit, mit der er einer anderen Generation angehörte. (Als er anfing, Filmkritiken zu schreiben, ging ich noch nicht mal in die Schule.) Er hatte sich unumstößliche Überzeugungen erworben. Als gelernter Historiker vertraute er nur Fakten, die von drei unabhängigen Quellen bestätigt wurden. Als Filmhistoriker zog er stets die Umstände der Entstehung eines Werks in Betracht: Die Kenntnis der geschichtlichen und sozialen Hintergründe waren unabdingbar, um ein Urteil zu fällen. Dementsprechend verabscheute er Anachronismen in Kino. Wie ich die Dialoge in »Die Prinzessin von Montpensier« (immerhin ein Film seines Freundes Bertrand Tavernier) akzeptieren konnte, war ihm schleierhaft. Er nahm sich Zeit, schaute sich einen Film zwei-, dreimal, obwohl er gar nicht über ihn schreiben musste. Sein Zeitungsarchiv führte er mit äußerster Akribie. Wenn auch auf der Rückseite wichtiger Artikel stand, kaufte er sich das Blatt zweimal. (Dass ich in einem solchen Fall die Rückseiten fotokopierte, ließ er gelten). Als Kritiker, zunächst bei »Jeune Cinéma«, dann bei »Positif«, spezialisierte er sich nicht nur auf das französische, sondern auch das ungarische Kino. Ich bedaure, dass ich ihn zu Letzterem viel zu selten befragte. Welche Horízonte hätte er mir noch eröffnen können!
Unsere Diskussionen fanden meist in Restaurants statt. Er war, wie es sich für einen französischen Filmpublizisten gehört, ein unbestechlicher Gourmet. Umso mehr erstaunte mich, wie sehr er die deutsche Küche in ihrer deftigen Variante schätzte. Aber herzhaft mochte er es ohnehin. Käse gehörte nicht in den Kühlschrank, sondern musste bei Zimmertemperatur reifen. Einmal befolgte ich seinen Rat, auf der Suche nach einem guten Mont d' Or eine Fromagerie in Montparnasse auszuprobieren. Ich hielt es keine Minute in dem Geschäft aus, weil mir das Aroma der vielen Käsesorten den Atem verschlug.
Wir lernten uns kennen, als wir für eine Veranstaltungsreihe über die deutsch-französischen Filmbeziehungen im Filmmuseum Potsdam einen Referenten suchte. Der Mann, den ich am Flughafen abholte, sah aus wie ein ehrwürdiger, alter Mandarin. Jean-Pierre war nicht unsere erste Wahl gewesen, erwies sich aber als genau die richtige. Ein Themenschwerpunkt unserer Filmreihe war die Produktionsfirma "Continental", die während der Besatzung urfranzösische Filme mit deutschem Geld drehte (siehe »Die Unbekannten im Haus« vom 10. 5.). An einem Abend war der Schauspieler Christian Berkel zu Gast, der in Taverniers »Laissez-passer« den Produktionsleiter Alfred Greven verkörperte und den Film vorstellte. Dem Gedankenaustausch zwischen ihm und Jean-Pierre zuzuhören, war ein Genuss von höchsten Graden. Berkel konnte sich kaum loseisen, obwohl zuhause ungeduldig ein Babysitter wartete. Jean-Pierres Kenntnisse waren enorm und er liebte es, sie mit anderen zu teilen. Die Vermittlung von Filmgeschichte war für ihn keine elitäre Angelegenheit. In Filmclubs in der Provinz Vorträge zu halten war ihm nicht weniger wichtig als seine Vorlesungen an der Sorbonne. Das Vorhaben einer befreundeten Redakteurin, ihn einen Text über das Thema des fehlenden Vaters im deutschen Nachkriegskino schreiben zu lassen, scheiterte an Termingründen.
Wenn ich ihn und seine Frau Marie im Pariser Vorort Créteil besuchte, bestand er stets darauf, mich vom Bahnhof abzuholen. Er legte Wert darauf, dass wir nie den selben Weg zu ihrer Wohnung nahmen. Das Viertel, in dem sie lebten, war in den frühen 60ern rasend schnell aus dem Boden gestampft worden, damit dort Heimkehrer aus Algerien angesiedelt werden konnten. Schön war es nicht. Jean-Pierres Wunsch, mir jeweils andere Facetten seines Wohnorts zu zeigen, hatte also keine ästhetischen Beweggründe. Aber er fand immer ein Gebäude, das von lokalhistorischem oder biographischem Interesse war. Créteil bedeutete ihm viel. Er hatte dort einen Filmclub gegründet, beim Frauenfilmfestival mitgewirkt und sich, ebenso wie Marie, in der Erwachsenenbildung engagiert. Das Kulturzentrum, in dem er einmal mit Algerienveteranen eine halbe Nacht über Taverniers »Der Krieg ohne Namen« diskutiert hatte, stand nicht mehr.
Es kam häufig vor, dass er mir Bücher schenkte, die er doppelt besaß. Dabei vermittelte er mir stets das Gefühl, wie wichtig es ihm war, dass gerade ich diesen Band besaß. Heute Nachmittag, als ich die Nachricht von seinem Tod im Alter von 79 Jahren erhielt, nahm ich »Le cinéma des francais« noch einmal in die Hand. Er hat es am 13. September 2007 für mich signiert. Unsere Freundschaft dauerte ein Jahrzehnt. Ich hätte mir gewünscht, es wären mehr als 15 Jahre daraus geworden.
Kommentare
Abschied von Jean-Pierre Jeancolas
Lieber Gerhard,
Vielen Dank für die schöne Huldigung an Jean-Pierre Jeancolas. Sowohl vom Herzen geschrieben, gefiel sie mir als genaue Beschreibung des wissenschaftlichen Forschers.
Als ich bei Positif eintraf, gehörte Jean-Pierre zwar immer noch zur Redaktion, aber die Verhältnisse wurden offensichtlich locker, und bevor ich ihn kennenlernen konnte, hat er die Mitarbeit offiziell zu Ende gebracht. [Dagegen habe ich Françoise Audé gut gekannt].
Eigentlich bestand der Höhepunkt unserer Beziehung darin, das wir mit Michel und Frau alle zu einem grossartigen Empfang von der ungarischen Botschaft organisiert,der2001 im Château Versailles stattfand. Tanzende Pferde bei Sonnenaufgang, anschliessend Dîner in der Orangerie, und der Jean-PIerre war ein Ehrengast. Anlass war eine neue Auflage seiner Geschichte L'Oeil hongrois, aber auch die Restauration von Sandor Kordas Film aus dem Jahr 1918, auf deutsch, Der rote Halbmond , nach einem bekannten Roman.
Mehrmals traf ich ihn und Marie bei einer Pressevorführung. Bemerkenswert war die Selbständigkeit seines Geschmacks und seiner Frau zu würdigen
Aus meinem kleinen Postbrief, den ich der Marie Appert gestern schickte, darf ich zitieren.
Die Genaugigkeit des Historikers hatte ich immer zu schätzen gewusst, noch mehr aber seine Treue zu seinem Engagement.
Schliesslich hatte er ein Ohr für die Ansichtspunkte Anderer, einschliesslich-und heutzutage ist es noch eine Seltenheit-die der Frauen.
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Wissen sie, das Käsegeschäft in Montparnasse existiert nicht mehr.
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