Filmfestival von Venedig: Erfüllte und unerfüllte Erwartungen
»Mother!« (2017). © Paramount Pictures
74. Filmfestival Venedig: Darren Aronofsky liefert mit »mother!« die erste große Enttäuschung des Festivals während Martin McDonaghs »Three Billborads outside Ebbing, Missouri« die Oscar-Chancen für Hauptdarstellerin Francis McDormand bestätigt
Was man von einem Film hält, hängt immer auch von den eigenen Erwartungen ab. Das gilt insbesondere für Filmfestivals, auf denen Kinobesucher aller Art eine kritische Masse bilden, die spontan und unmittelbar reagiert. Dass Darren Aronofskys mit großer Spannung erwarteter Film »mother!« nun der erste des diesjährigen Festivaljahrgangs in Venedig war, in dessen Begrüßungsapplaus sich auch heftige Buhrufe mischten, war eine Reaktion auf eben diese großen Erwartungen. Nicht zuletzt ein zuvor kursierender Filmtrailer hatte Hoffnungen geschürt auf einen Psycho- und Horrorthriller in der Klasse von Stanley Kubricks »Shining« oder Roman Polanskis »Rosemarys Baby«. Die Crux solcher im Vorfeld angeheizter Ansprüche aber ist: Einmal enttäuscht schlagen sie schnell ins Gegenteil um.
Jennifer Lawrence spielt in »mother!« die junge Frau eines berühmten Schriftstellers (Javier Bardem), der gerade eine Schreibblockade erlebt. Während sie die stille Zweisamkeit in einem abgelegenen Landhaus genießt, sehnt sich ihr Mann nach Abwechslung. Den wenig vertrauenerweckenden älteren Mann, der in Gestalt von Ed Harris eines Abends vor ihrer Tür steht, begrüßt er mit übertriebener Gastfreundschaft. Genauso wie dessen unfreundliche Ehefrau – wunderbar herrisch gespielt von Michelle Pfeifer –, die am nächsten Morgen auftaucht. Die von Lawrence verkörperte Frau fühlt sich unterdessen ausgegrenzt und befremdet.
Nicht nur, dass die Eindringlinge sich seltsam benehmen. Es mehren sich auch die Anzeichen für allerlei unheimlich-horrende Dinge, die im Haus vor sich zu gehen scheinen. Oder ist alles nur ihre Einbildung? Nach einem raffinierten, spannungsgeladenen Anfang gerät »mother!« leider mehr und mehr zu einem effekthascherischen, herkömmlichen Horrorfilm. Und Darren Aronofsky, dem mit »Black Swan« vor wenigen Jahren noch der perfekte Kurzschluss zwischen Psycho- und Horror-Thriller gelang, enttäuscht hier gleich zu beiden Seiten: Als Psychometapher für die Mann-Frau-Beziehung ist der Film zu oberflächlich, als Horrorthriller zu repetitiv. Vielleicht waren einfach die Erwartungen zu groß.
Auch dem neuen Film des irischen Regisseurs und Autors Martin McDonagh (»Brügge sehen … und sterben?«) eilte vor der Premiere in Venedig ein großer Ruf voraus: Der Trailer von »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri« verbreitete sich schon seit März auf Youtube und machte zum einen den in seiner Umständlichkeit bemerkenswerten Titel populär und zum andern Hauptdarstellerin Frances McDormand zur augenblicklichen Oscar-Kandidatin. McDormand verkörpert in dem Film die Mutter eines ermordeten Mädchens, die Reklametafeln anmietet, um die örtliche Polizei zu Taten zu bewegen. Es gelingt ihr, ganz Ebbing gegen sich aufzubringen. Und tatsächlich kommen viele Dinge in Gang – wenn auch nicht unbedingt so, wie sie sich das gewünscht hätte.
McDonaghs Film lebt ganz durch seine geschliffenen Dialoge. Die Figuren erweisen sich als Charakterköpfe, die an unpassender Stelle zu witzigen Bemerkungen fähig sind. Was ihm an psychologischer Tiefe fehlt, ersetzt der Film auf diese Weise durch reine Unterhaltsamkeit – und erfüllt darin immerhin die in ihn gesetzten Erwartungen. Francis McDormand, die hier die scheinbar ungeschminkte, ungefällige ältere Frau gibt, kann sich tatsächlich Chancen auf eine Oscar-Nominierung ausrechnen.
Die Reaktionen auf »Three Billboards« gleichen denen auf das gesamte Festival in diesem Jahr: Man ist zufrieden, so lange die Erwartungen erfüllt wurden. Besonders, weil sie von Anbeginn nicht gar so groß waren. Noch immer befindet sich das Festival in einem Umbruchsprozess: Man zeigt sich offen nach allen Seiten hin. In diesem Jahr gibt es beispielsweise eine Sektion für Virtual-Reality-Werke, Dokumentarfilme werden gezeigt, Serien und andere Produktionen von Netflix und Amazon kommen auf die Leinwand. Gleichzeitig wird deutlich, dass die neuen Verbreitungswege per Streaming das Filmmarketing und damit die Festivallandschaft verändern. Um im Vorfeld der größeren und kommerzielleren Festivals wie Toronto zu bestehen, braucht Venedig in Zukunft ganz sicher wieder mehr eigenes Profil.
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