Ohne Reinheitsgebot
Vor Kurzem schoss mir ein schlichter, allerdings weitreichender und obendrein ungerechter Gedanke durch den Kopf. Ich fragte mich, ob man Filmemacher nicht grungsätzlich in zwei Kategorien unterteilen sollte.
Die Angehörigen der ersten bräuchten das Kino nicht unbedingt. Sie könnten ihr erzählerisches oder ästhetisches Vorhaben durchaus auch auf anderen Feldern artikulieren, beispielsweise als Schriftsteller oder Maler, als Soziologen oder Dekorateure, als Kulturkritiker oder Stand-up-Comedians. Den Angehörigen der zweiten Kategorie steht diese Ausweichmöglichkeit nicht zu Gebot; ihnen käme es erst gar nicht in den Sinn, danach zu suchen. Sie gehören ganz dem Kino an: auf eine geheimnisvoll unauflösliche Weise. Ihnen fehlt glorreich dieses zweite Natur, für sie ist Stil nicht Mehrwert, sondern Essenz. Ihr Anliegen kann sich sich nur Bahn brechen im Zusammenspiel von Hell und Dunkel, von Bewegung und Rhythmus,von Nähe und Distanz, von hartem Schnitt oder weicher Überblendung. Michael Powell, der allerdings auch ein begabter Verfasser von Memoiren war, hat ihr Credo formuliert: "I am cinema."
Dieses Überlegungen traten auf den Plan, als ich zusammen mit einem Freund »Dragon Inn« sah. Für ihn war es der erste King-Hu-Film überhaupt; ich kannte nur den Anfang einer Videokopie, die bis zu Ende zu sehen ich nicht ertragen konnte, da das Breitwandformat durch Vollbild und Pan-and-scan-Abtastung verstümmelt war (seien Sie froh, wenn Sie nicht mehr wissen, was das ist). Mithin war der Film für uns beide eine Entdeckung und nach dem Schlusstitel klar, dass der Freund sich alles, was ich von diesem Regisseur auf DVD habe, umgehend ausleihen musste.
Bei einem Filmemacher, dessen Arbeiten man unbedingt im richtigen Format sehen muss, ist es schon mal sehr wahrscheinlich, dass er zur zweiten Kategorie zählt. Und die ersten ein, zwei Minuten von »Dragon Inn« zerstreuen jeden Zweifel. Sie besitzen eine skeptische Magie. Eingangs durchkreuzt eine diagonale Kranfahrt den parallelen Aufmarsch zweier Armeen, die nichts Gutes im Schilde (beziehungsweise auf ihren prachtvollen Bannern ) führen, mit einer diagonalen Kranfahrt. Gleich darauf soll ein Todesurteil verlesen werden. Als die Schriftrolle entrollt wird, erscheinen auf ihr die Vorspanntitel.
Die Anfänge sind immer großartig bei King Hu. Sie sind nie unschuldig. Selbst wenn sich der Beweggrund eines Schwenks sich nicht sofort erschließt, erscheint er im Nachhinein doch planvoll. Dezent dynamisiert King Hus Kameraführung den Erzählfluss, gern in gegenläufiger Bewegung zum entschlossenen Schritt der Figuren. Dem klassischen Martial-Arts-Publikum werden solch diskrete inszenatorische Gesten wohl nicht aufgefallen sein. Aber untergründig spürte es vielleicht, dass hier dem folgenden Schauspiel auf raffinierte, ungeläufige Weise die Bühne bereitet wird. King Hu beginnt seine Filme wie ein erfahrener Schwertkämpfer, der die eigene Virtuosität zunächst im Wartestand hält. Viele Regisseure ähneln ihren Figuren, aber nur wenige spüren eine solch tiefe innere Verwandtschaft zu ihnen wie er.
Die behände absichtsvolle Bewegung im Raum ist bei ihm bereits eine filmische Attraktion von hohen Graden. Sie kündet von beherrschter Gewaltbereitschaft. Mit rabiater Umsicht nehmen seine Helden ihr Ambiente in Besitz und werden es fortan zu ihrer Bühne und ihrem Verbündeten machen. Dem wuxia verleiht er eine einzigartige Erhabenheit, bei der sich Freude an der Präzision der Gesten in der haptischen Sorgfalt seiner Inszenierung verdoppelt. In »A Touch of Zen« vergeht fast eine Stunde bis zur ersten Actionszene: Sie will atmosphärisch und moralisch eingebettet sein. Die Konfrontationen bahnt er langsam an – die Kontrahenten begegnen sich mit Höflichkeit und Achtung, belauern einander oder zeigen sich offen für neue Bündnisse -, lässt sie sich rhythmisch entwickeln in Intervallen von Reglosigkeit und blitzschneller Aktion. Sie verlaufen vergleichsweise unblutig und bescheren dem Zuschauer in der Konzentration auf Geschick und Kunstfertigkeit ein seltenes Hochgefühl.
Dank der wagemutigen Verleihpolitik von "Rapid Eye Movies" kann man es nun wieder im Kino erleben und King Hu als einen Meister der auffächernden Montage kennenlernen. Kaum je wiederholt er eine Kameraperspektive, sondern findet für jede Einstellung einen neuen, unerwarteten Blickwinkel. Womöglich haben nur Eisenstein, Kurosawa und Peckinpah das Wesen der Montage so tief durchdrungen wie er. Folgt man diesem Gedanken, könnte man nun postulieren, das Montagekino käme nur in Gewaltszenen zu sich selbst. Instinktiv würde ich diesem Diktum gern widersprechen - aber nach reiflicher Überlegung erscheint es als eine Einsicht, der ich mich beugen darf. King Hu wurde mit »Come drink with me« 1966 und ein Jahr später mit »Dragon Inn« nicht nur zu einem Wegbereiter des Kampfkunstfilms, sondern bereits zu dessen Vollender. Nach deren Kassenerfolgen (so groß, dass sie in Taiwan ein regelrecht soziologisches Phänomen darstellten) wurde er zu einem Markenzeichen auf dem südostasiatischen Markt: Es kamen diverse Filme unter seinem Namen heraus, mit denen er nichts zu tun hatte. Es bedurfte nicht erst eines Ang Lee oder eines Zhang Yimou (die seine Filme bis zum Plagiat hin zitieren und gern übertreffen würden), um dem Genre die höheren Weihen des Autorenfilms zu verleihen: »A Touch of Zen« war der erste chinesische Film, der auf dem Festival von Cannes ausgezeichnet wurde.
Olivier Assayas nannte ihn einen "Giganten im Exil". Tatsächlich erzählt seine Biographie auch von der Zerrissenheit seiner Heimat. 1931 wurde er in Peking geboren, floh nach der Machtergreifung der Kommunisten nach Hongkong und arbeitete schließlich in Taiwan, wo er (nach einem Zwischenspiel in den USA, wo er sein Lieblingsprojekt über den jesuitischen Missionar Matteo Ricci dann doch nicht realisieren konnte) 1997 starb. Ins Filmgeschäft kam er eher zufällig, weil er einem Studioangestellten Englisch-Unterricht gab. Er arbeitete als Plakatmaler, Szenenbildner und Radioproduzent, bevor er Ende der 1950er Jahre von den Shaw Brothers als Schauspieler unter Vertrag genommen wurde; mit der Option, später auch ins Regiefach zu wechseln. Bald zeichnete sich ab, dass seine Ambitionen zu groß wurden für den Geschmack der Produzenten. Bei Shaw Brothers etwa lief die Produktionsmaschinerie ohne Pause, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche. King Hu hingegen nahm sich Zeit. Die Dreharbeiten zum Kampf im Bambuswald in »A Touch of Zen« nahmen 25 Tage in Anspruch. Die massiv gebauten Dekors ließ er monatelang verwittern, bevor er die erste Szene drehte. In 31 Jahren konnte er gerade einmal ein Dutzend Filme realisieren. Sein Einfluss ist immens: »Dragon Inn« hat eine Reihe kläglicher Remakes hervorgebracht, Tsai Ming-liang erweist ihm seine Reverenz und Tarantinos „The Hateful Eight“ gäbe es ohne ihn nicht.
Der Erzählhorizont seiner Filme scheint nicht weit gefasst. Selten verließ er das Terrain des wuxia. Allerdings verschaffte er auf ihm, im Gegensatz zu seinem großen Konkurrenten Chang Cheh, zum ersten Mal weiblichen Helden ein wehrhaftes Bleiberecht. Das wirft in seinen Filmen nur kurzfristig Probleme der Schicklichkeit auf (konventionelle Liebesgeschichten gibt es praktisch nie bei ihm), sie erweisen sich vielmehr stets als ebenbürtige Kämpferinnen. Das Einzige, was heute an »Dragon Inn« veraltet wirkt, sind die üblen Scherze, die auf Kosten von Eunuchen gehen. Ansonsten sind seine Figuren von archetypischer Reinheit. Sie sind Chiffren der Entschlossenheit, von keiner Psychologie beschwert, ihre Rolle und ihr Mandat sind deckungsgleich.
Seine Haltung zum Genre ist, wie Alexandra Seitz im aktuellen epd-Heft ausführt, aus der Liebe zur chinesischen Oper erwachsen, seine Kampfszenen inszeniert er wie Tänze. Die Vorliebe der Oper für öffentliche Schauplätze wie Herbergen überträgt er meisterlich ins Kino. Die Drehbücher seiner Filme verraten ein besonderes Geschick dafür, unterschiedliche Akteure an einem Ort zusammenzuführen, die jeweils verborgene Motive antreiben und die sich gegenseitig belauern. Schon die Orte stecken bei ihm voller Arglist. Auch wenn sich die Handlung wesentlich in Innenräumen zuträgt, erfüllt sich die Bestimmung seiner Charaktere unweigerlich in der Natur. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, spielen seine Filme zur Zeit der Ming-Dynastie, einer Epoche großer Korruption und Duplizität. Diese Vorliebe für Ambivalenzen hat weitreichende thematische Konsequenzen. Dem Anschein ist nicht zu trauen in seinen Filmen, er ist stets eine Maskerade. Im Kern erzählt King Hu Spionagegeschichten voller kodierter Nachrichten, die immer neue Bedeutungsebenen offenbaren. Seine Kampfszenen überwinden nicht nur die Gesetze der Schwerkraft, sondern verschaffen auch dem Übersinnlichen, der Spiritualität Geltung. Sie handeln von Unterweisung, Vergeltung, Abbitte, Bekehrung. In Schwert- und Fausthieben manifestiert sich auch moralische Autorität, physische Kraft muss sich nicht selten einer höheren Macht beugen. Ihre Grazie ist nicht von dieser Welt. Sie gehört ganz dem Kino.
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