Diesseits vom Taksim

Das türkische Gegenwartskino schaut auf die Wirklichkeit und die schmerzlichen Fragen, die sie aufwirft
once_upon_a_time.jpg

Istanbul, ein Tulpenmeer. Die Tulpe ist die Nationalblume der Türkei – und als »Goldene Tulpe« die Auszeichnung des Istanbuler Filmfestivals. Und das zeigte in diesem Jahr türkisches Kino zur Lage der Nation

Verschwenderisch sind die Tulpen in die wenigen Parks und Grünflächen gepflanzt, sie bringen während der Festivaltage Farbe in die ruhelose Metropole.  Die Parks sind von Bettlern bevölkert, die mit ausgestreckten Händen klagend  »Syria, Syria« sagen. Festivals sind Orte, die den zweiten Blick schulen. Das vermeintliche touristische Ärgernis sieht der syrische Dichter und Dissident Yassin al-Haj Saleh auf einer Podiumsdiskussion als menschliches Drama von mehr als einer Million (geduldeter) syrischer Flüchtlinge in der Türkei. Er beschrieb die langjährige systematische Abschaffung jedweden kulturellen Ausdrucks, der dem Bürgerkrieg voranging, den langwierigen Wiederaufbau, der zu leisten sein wird, wenn der Weg aus den Lagern zurück in eine zerlegte Heimat führt.

Heimat und deren Verlust prägte etliche türkische Filme im nationalen Wettbewerb, etwa den Eröffnungsfilm dieser Sektion, den urbanen Schuld-Thriller Consequences (Silsile) oder die Komödie Let’s sin (Itirazim Var), die Geschichte eines Imam, der als Detektiv wider Willen Korruption und kriminelle Machenschaften aufdeckt. Die freundliche, in gefällige Genrevarianten eingebettete Subversion beider Filme verweist auf Verwerfungen in der Metropole Istanbul und ihr Ringen mit einer Moderne, die sie fürchtet und ersehnt.

Nachhaltiger bleiben Filme, die sich Entfremdung, Diskriminierung und Unterdrückung widmeten, ohne ihre bitteren Themen mit einem Teelöffel Genrezucker zu süßen. Come to my Voice (Waren Dengê Min) erzählt die Geschichte einer Großmutter und ihrer Enkelin, die ihren Sohn bzw. Vater aus der Gefangenschaft freikaufen möchten. Türkische Polizisten hatten Hardball mit kurdischen Dorfbewohnern gespielt, sie verhafteten die Männer unter dem Vorwand, diese besäßen Waffen. Die nicht vorhandenen Waffen müssen als Gegenleistung für die Freilassung beigebracht werden. Blinde Visionäre, ein süßes Mädchen und eine kluge Großmutter sind eingebettet in eine metaphorische Erzählung, die sich als eine ruhige Studie in Würde und Beharrlichkeit entpuppt. 

Der buchstäblich dunkelste Film war Melissa Önels Seaburners (Kumun Tadi). Ein Klangteppich liegt über dem düsteren, feindlichen Meer, dunklen Wäldern und kargen Hütten, bevölkert von einer Handvoll verlorener Seelen. Menschenhändler träumen von einer besseren Zukunft für sich selbst und die Flüchtlinge, die sie in eine ungewisse Zukunft verschiffen.  Die Katastrophe ist so vorhersehbar wie offensichtlich in dieser Welt der Stille und Bitterkeit. 

Kazim Öz’ mit dem FIPRESCI-Preis prämierte Dokumentation Once upon a Time (Bir Varmis Bir Yokmus) leuchtet im hellen Sonnenlicht über endlosen »Fieldscapes« im Umland von Ankara, auf denen  kurdische Familien knien, um in monatelanger Knochenarbeit Salat zu pflanzen, zu bewässern und zu ernten. Öz’ Studie in Ausbeutung beginnt und endet in einem Supermarkt, wo Salat  ein Produkt unter tausend anderen ist. Die Ökonomisierung jeden Winkels menschlichen Miteinanders macht die Welt zum Supermarkt.

Der kurdische Autor, Regisseur und Kameramann Kenan Korkmaz  erzählt in The Other and The Unknown (Gittiler Sair Ve Mechul’) zwei separate Geschichten über zwei Brüder. Der eine trägt in ihrem Heimatdorf Sorge für den kranken Vater, trotz der Bitterkeit über diesen verlorenen Außenposten, den alle längst verlassen haben. Seine einzige Verbindung zu dem emigrierten Bruder ist eine Postkarte aus Stockholm. Wenn Korkmaz im zweiten Teil nach Stockholm wechselt, wird die europäische Metropole zu einem nicht minder dunklen und einsamen Ort, aller Farbe und Lebendigkeit beraubt, wie das Leben des emigrierten Bruders. Nach dem Verlust eines Freundes durch einen rassistischen Angriff scheitert der einsame Einwanderer sogar am Vollzug des Selbstmordes. Wie sein Bruder klammert er sich an eine Postkarte aus einem anderen Leben, seiner ehemaligen Heimat. Die Last von Schuld und Verlust nach dem Verlassen der Heimat wird jedoch nie weichen. Das türkische Gegenwarts-Kino schaut auf die Wirklichkeit seines Landes und die schmerzlichen Fragen, die sie aufwirft.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt