Cannes 2017: Aktion und Aktivismus
Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen rund um das Festival von Cannes lassen in diesem Jahr die üblichen Schlangen vor den Kinos noch länger werden. Wie gut sie greifen, erlebte die versammelte Presse am Samstagabend, als sich die Vorführung von Michel Hazanavicius' Wettbewerbsbeitrag »Le redoutable« (in etwa: »Der Schreckliche«) verzögerte, weil ein »verdächtiges Objekt« im Saal gefunden worden war. Als dieses als harmlos enttarnt wurde, konnte die Vorstellung schließlich mit 45 Minuten Verspätung beginnen. Den Erwartungen, nun »etwas Explosives« auf der Leinwand zu erleben, konnte der Film nicht wirklich standhalten.
Hazanavicius (»The Artist«) wagt sich in »Le redoutable« an eine Legende des französischen Films, den Nouvelle-Vague-Regisseur Jean-Luc Godard. Nach den literarischen Erinnerungen von dessen zweiter Frau, Anne Wiazemsky, zeigt er den damals 37-jährigen Godard (gespielt von Louis Garrel), der im Jahr zuvor die erst 19-jährige Wiazemsky geheiratet hat und nun Anschluss sucht an die Studenten- und Arbeiterproteste, die schließlich im Mai '68 kulminieren.
Mit einem Godard im Zentrum, der bei Demonstrationen regelmäßig die eigenen Fans demütigt und es sich nach und nach mit den eigenen Freunden und schließlich der eigenen Frau verdirbt, ist »Le redoutable« zugleich Demontage, Satire und Hommage an den Regisseur von »Außer Atem« und »La chinoise«. Hazanavicius inszeniert mit viel Lust am 60er-Jahre-Dekor, ihm gelingt ein amüsanter Film, der seine Figur samt ihrer damaligen maoistisch-revolutionären Überzeugungen aber zu wenig ernst nimmt, um wirklich Gewicht zu haben.
»Le redoutable« ist einer von gleich zwei französischen Filmen, die historische Protestbewegungen zum Hintergrund haben. Der zweite, Robin Campillos »120 battements par minute«, zeigt eine Gruppe von Aktivisten der Anti-Aids-Bewegung in den 90er Jahren. Campillo inszeniert im Dokudrama-Stil die debattenfreudigen Sitzungen und vor Gewalt nicht zurückscheuenden Aktionen der Aktivisten, wobei nach und nach die Liebe zwischen dem quirligen, HIV-positiven Sean (Nahuel Pérez Biscayart) und dem stoischen Nathan (Arnaud Valois) zum Roten Faden des Dramas wird.
Mitreißend sowohl wegen seiner Thematik als auch seiner Riege an sympathischen Darstellern, wurde »120 battements…« vom Publikum gefeiert wie bislang noch kein anderer Film in Cannes. Hauptdarsteller Biscayart steht in jedem Fall bereits auf der Favoritenliste für den Darstellerpreis.
Auch der Netflix-Film »Okja« des koreanischen Kultregisseurs Bong Joon-ho (»Snowpiercer«) kam beim Publikum wie auch bei der Kritik gut an. Auch darin gibt es eine Aktivistengruppe, hier in Form von radikalen Tierfreunden, die die Machenschaften einer Genfirma – der Film spielt in einer nahen Zukunft – entlarven wollen. Emotionales Zentrum des Films ist ein von dieser Genfirma produziertes Riesenschwein namens Okja und das kleine Mädchen, das es aufgezogen hat.
Die Mischung aus Science-Fiction, antikapitalistischem Märchen und Gesellschaftsgroteske ist nicht unbedingt palmenverdächtig, taugt aber dazu, die Kontroverse um Kinostarts und Streamingdienste diesmal im Sinne von Netflix lebendig zu halten.
Sehr wohl für eine Auszeichnung empfohlen hat sich der Schwede Ruben Östlund, der mit »The Square« den bislang am meisten zur aktuellen Lage sprechenden Film vorlegte. Auch »The Square« trägt satirische und deshalb ausgesprochen unterhaltsame Züge, was zunächst als Parodie auf das Hochkultur-Gebaren der modernen Kunstwelt daherkommt. Der Film entwickelt sich dann zu einem immer bissiger werdenden Porträt der modernen Gesellschaft.
Höhepunkt des Films ist der Auftritt eines Perfomance-Künstlers, der bei einem Gala-Dinner den Affen spielt. Er provoziert einzelne Gäste, verfolgt sie, nötigt sie zu Reaktionen und wird schließlich auch gewalttätig. Lange, sehr lange sitzt die illustre Gesellschaft herum und – tut nichts. Wieder und wieder variiert Östlund dieses Thema: wie voyeuristisches Staunen, stumme Ratlosigkeit und der Wille zur Toleranz sich zu einer sozialen Passivität addieren, die echte Lösungen unmöglich macht.
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