Die Grenze bleibt offen
Puristen, die diese Gattung als maßlos, überreizt und schematisch beargwöhnen, dürfen sich in diesem Monat eines Besseren belehren lassen. Das Melodram in seiner mexikanischen Spielart gibt zwar dem Genre, was des Genres ist. Es reibt sich heftig an den vertrauten Motiven, dem Skandal der Liebe und den Vorurteilen der Gesellschaft. Aber zugleich ist es porös, lässt Raum für Subversion und Bizarrerien. Es reißt Mauern ein.
Seitdem das Forum der Berlinale vor ein paar Jahrzehnten zum ersten Mal eine Reihe dieser staunenswerten Filme präsentierte, gab es im deutschsprachigen Raum immer mal wieder die Gelegenheit, sie zu entdecken – das Berliner Arsenal zeigte 2010 eine Auswahl, das Österreichische Filmmuseum stellte das Melodram im selben Jahr in den Kontext des Goldenen Zeitalters des mexikanischen Kinos. Auch die kleine Filmreihe des Berliner Zeughaus-Kinos, die heute Abend beginnt, erweitert den Genre-Begriff. Titel wie »Was für hübsche Rundungen« lassen auf muntere Entgrenzungen schließen. Der Komiker Cantinflas, vor allem als David Nivens findiger Diener aus »In 80 Tagen um die Welt« bekannt, ist in einer frühen Rolle zu sehen. Ein Höhepunkt ist »Bei Tagesanbruch« von Julio Bracho, dem das New Yorker MoMa übrigens gerade eine Retrospektive mit sieben stimmungsvollen Genrebastarden widmet.
Es gilt, eine reiche Epoche zu besichtigen. Das mexikanische Kino der 1940er Jahre spiegelt den ökonomischen Boom des Landes wieder, zeigt eine Gesellschaft in Bewegung, im Aufbruch. Im Jahrzehnt zuvor triumphierte ein ungekannter Nationalismus, eine stolze Rückbesinnung auf die eigene Kultur. Die Filmindustrie blühte dank protektionistischer Gesetze auf. Eine Quote wurde eingeführt, die dem einheimischen Film eine Präsenz auf der Hälfte der Leinwände sicherte; das argentinische und das Hollywoodkino verloren ihre bisherige Vormachtstellung auf dem Markt. Emilio Fernández' »Maria Candelaria« wurde in Cannes und Locarno jeweils mehrfach ausgezeichnet und verschaffte dem mexikanischen Film auch internationale Aufmerksamkeit. Unverzichtbar für das Antlitz dieses Kinos ist die lyrische, kontrastreiche Kameraarbeit des großen Gabriel Figueroa, bei der die Landschaft Seele besitzt; selbst die urbane.
Es herrschte eine kosmopolitische Atmosphäre. Der gebürtige Kanadier Alex Philipps (von ihm läuft »Göttin auf Knien« mit Maria Félix) gehörte seit den frühen 30er Jahren zu den stilbildenden Kameraleuten. Nach dem Krieg wurde das Land darüber hinaus zum Refugium von Re-Emigranten. Fernández, dessen Vita (oder besser: Legende) sich wie ein blutrünstiger Schelmenroman liest, hatte Mexiko nach dem gescheiterten Putsch Huertas verlassen müssen und in Hollywood unter anderem als Double von Douglas Fairbanks gearbeitet. John Ford war sein erklärtes Vorbild. Sein Regiekollege Roberto Gavaldón hatte in Los Angeles seinen Lebensunterhalt als Kellner verdient.
Das mexikanische Kino konnte offen sein für derlei Einflüsse, weil es eigene Konturen und Traditionen besaß. Es verfügte über ein etabliertes Starsystem. Die gebieterische Maria Félix meisterte das Rollenfach der stolzen, wehrhaften Frau. Arturo de Córdova brillierte als soignierter, dubioser Edelmann und Pedro Armendáriz als würdevoller Mann aus dem Volke. Das Melodram besaß seine eigenen Codes und Mechanismen der Katharsis. Es kreist um die anstößige, unstandesgemäße Liebe und zielt auf eine Maximierung der Effekte. Es ist im Wortsinne melodramatisch: Wendungen und Schicksalsschläge werden dringlicher, nervenzerfetzender von der Musik untermalt, als es anderswo vorstellbar wäre; regelmäßig kommentieren Lieder die Handlung und offenbaren die Seelennöte der Charaktere.
Die Exzentrik der Drehbücher entfaltet sich in haarsträubenden Wendungen, aber auch in klassenkämpferischem Pathos. Roberto Gavaldon streut mitunter den Sand der Rationalität ins Getriebe des Melodrams und schürt damit in ungekannten psychologischen Tiefen. Sein größter Rivale in dem Genre, Fernández, steht für ein entschieden plastischeres, lyrischeres Kino. Der Drang nach Zivilisation und Bildung ist ein zentraler Impuls seiner Filme, die brüsk und zartfühlend sind, voller Ehrfurcht vor der Prachtentfaltung der Künste und von einer religiösen Metaphorik und Lichtführung. Mein Favorit ist »Enamorada« (Die Verliebte), der auch die ironischen, burlesken Ränder des Genres erkundet. Die Liebe, die zwischen einem stolzen Revolutionsgeneral (Armendáriz) und einer hochmütigen Großbürgerstochter (Félix) entflammt, ist ein Belagerungszustand, der sich in beherzten Handgreiflichkeiten und wortreicher Demut manifestiert. Diese beiden Gegner im Geschlechter- und Klassenkampf sind einander ebenbürtig; nicht zuletzt, weil sie zur Einsicht fähig sind. Der brüske General entdeckt, dass er gleichzeitig Revolutionär und ein liebender (sowie religiöser) Mann sein kann und seine Geliebte begreift, dass eine höhere Tochter sich mit dem einfachen Volk gemein machen kann, ohne ihre Würde zu verlieren. Selten wurde im Kino der Widerspruch zwischen sozialer und romantischer Identität so berückend aufgelöst.
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