Kritik zu Mit siebzehn

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Der französische Regisseur André Téchiné feiert mit einer Geschichte um zwei Jugendliche in Frankreichs südlichen Bergen ein schönes Comeback. Den Annäherungsprozess zweier verfeindeter Schüler verkörpern seine Schauspieler Stacey Mottet Klein und Corentin Fila mit bewundernswerter Einfühlung

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Noch wissen sie nicht, was sie voneinander wollen. Was sie anzieht, bleibt ihnen vorerst ein Rätsel. Aber es wirken starke Impulse in ihnen. Die beiden Schüler nutzen jede Gelegenheit, um den anderen vor der Klasse zu demütigen. Das verlangt unweigerlich nach Vergeltung. Sie stellen sich ein Bein, gehen mit den Fäusten aufeinander los. Niemand in der Schule kann sich einen Reim darauf machen, woher diese Feindseligkeit rührt.

Ihre Abneigung ist so erbittert wie namenlos. Sie kennt kein Entrinnen und auch keinen Sieger. Es stehen sich zwei ebenbürtige Gegner gegenüber. Thomas, der aus dem Maghreb stammende Adoptivsohn einer Bauernfamilie (Corentin Fila) ist ein eifriger Schüler, der davon träumt, Tierarzt zu werden. Damien (Kacey Mottet Klein) hat noch keine genauen Pläne für sein Leben; er ist aufgehoben im Dasein des geliebten Sohnes, der gern für die Familie kocht. Seine Mutter Marianne (Sandrine Kiberlain) ist die unnachgiebig pflichtbewusste Ärztin des kleinen Ortes. Eines Tages behandelt sie auch Thomas' Mutter, die nicht nur eine Lungenentzündung hat, sondern auch unverhofft schwanger ist.

André Téchinés »Mit Siebzehn« erzählt, eingebettet in die Abgeschiedenheit eines südfranzösischen Tals, einen zweifachen Bildungsroman, in dem der Weg zur Identität über den Aufruhr der Körper führt. Man ahnt bald, wie viel Sehnsucht sich hinter der Wut von Damien und Thomas verbirgt, aber Téchiné greift ihren Gefühlen nicht vor. Geduldig schildert er den konfliktreichen Prozess ihrer Annäherung. Die Montage arbeitet zielstrebig an dessen Gelingen. Jeder Schnitt schafft einen Widerhall. Eingangs führt der Film die zwei Leben parallel, wechselt behände zwischen dem Hof in den Bergen und dem Stadthaus, um sie dann dort zu vereinen. Marianne nimmt Thomas auf, um ihm den langen Schulweg zu ersparen und die Streithähne zu versöhnen. Es geniert sie nicht, dass ihr Sohn schwul ist. Vielmehr erfüllt es sie mit Stolz, wie sensibel er ist.

Lange Zeit schien es, als würde Téchinés Kino nicht mehr zählen. Sein Stil und seine thematischen Interessen wirkten überholt. Gleich zwei Regiegenerationen, für die sein ehemaliger Drehbuchautor Olivier Assayas und dessen frühere Darstellerin Mia Hansen-Love stellvertretend stehen, haben seine Stelle eingenommen und stehen für ein zeitgemäßeres Kino. Aber mit seinem neuen Film findet er zu dem Elan zurück, der 1994 in »Wilde Herzen« aufflackerte. In jugendliche Unrast kann er sich noch immer einfühlen. Seinen Figuren ist er mit unvermindert wachsamer Zärtlichkeit verbunden. Allerdings war er klug genug, das Drehbuch zusammen mit Céline Sciamma zu schreiben, deren Regiearbeiten (»Water Lilies«, »Bande de filles«) ähnliche Umbrüche aus weiblicher, urbaner Perspektive erzählen.

Durch diese kreative Reibung gewinnt Téchinés Impuls, Chroniken der Zivilisierung zu erzählen, frische Triftigkeit. Schon Téchinés Besetzungsstrategie liefert hierfür einen Beleg: Alexis Loret, der 1998 in »Alice und Martin« den rohen, ungeschlachten Jungen spielt, verkörpert nun Damiens verständigen Vater. Er hat sich den Traum, den er als 17-jähriger hegte, erfüllt und ist Pilot geworden. Die Rituale eines Erwachsenenlebens geben den Jungen nur wenig Anhalt bei ihrer Identitätssuche. Aber als Damiens Nachbar Polo sie gemeinsam im Kampfsport unterweist, müssen sich ihre Raufereien plötzlich Regeln unterwerfen, und die Feindschaft büßt ihre Beweggründe ein. Téchiné stellt seine Protagonisten in eine Welt der Ermutigung, in der ein jeweils inniger, auch spielerischer Familienzusammenhalt herrscht. Ihre Entwicklung schildert er vor dem Wechsel der Jahreszeiten, die nicht nur als Allegorie des Lebenszyklus' dienen. Die Natur spielt eine unverzichtbare Rolle. Damien erschließt sich Thomas' bukolische Lebenswelt mit tastender Neugierde. Thomas' Lernprozess geht einher mit der Schwangerschaft seiner Mutter, die eigentlich die Hoffnung auf ein leibliches Kind aufgegeben hatte. Nun wird es also ein richtiges, sagt er zu seinem Adoptivvater. Nein, widerspricht dieser ihm, es gibt keine falschen Kinder.

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