Außerordentlich, ungeheuerlich, unglaublich wahr
Es bleibt abzuwarten, wie viel Wahrheit am Ende tatsächlich in den wahren Geschichten stecken wird, die sich so prominent und massiv auf der »Black List« platzieren konnten. Wie frei Autoren, Regisseure und Produzenten über sie verfügen können, muss sich noch erweisen.
Bevor die »Blond Ambition«- Produzenten von einem Oscar-Regen träumen dürfen, müssen sie sich wahrscheinlich erst einmal mit einer Phalanx von Anwälten auseinandersetzen, die nicht nur die Persönlichkeitsrechte von Madonna und anderen Beteiligten gewahrt wissen, sondern bestimmt auch eine Deutungshoheit für ihre Klienten beanspruchen wollen. Dennoch scheint die Angst vor juristischen Hemmnissen vorerst niemanden davon abzuhalten, auf reale Ereignisse zurückzugreifen. Dieser Trend verstärkt sich von Jahr zu Jahr so sehr auf der »Black List«, dass man es als eine Konjunkturgeschichte lesen muss. Beginnen wir, wie es viele Geschäfte zum Jahresbeginn tun, mit einer Inventur.
Neben den im ersten Teil erwähnten Spitzenreitern harren unter anderem folgende Stoffe hoffnungsvoll ihrer Realisierung: »Linda and Monica« rekapituliert die bizarre Freundschaft zwischen Monica Lewinsky und Linda Tripp; »Letters from Rosemary Kennedy« schildert das traurige Schicksal der Präsidentenschwester; »I, Tonya« basiert auf Interviews mit der waffenstarrenden Eiskunstläuferin Tonya Harding; in »King of L.A« wechselt ein DEA-Agent die Seiten und wird als Drogenschmuggler aktenkundig. Einige Stoffe gehen richtig weit zurück in die Historie: »Liberty« schildert die Entstehung der Freiheitsstatue aus der Perspektive des französischen Bildhauers Batholdi und »Barbarian« erzählt von der keltischen Kriegerin Boudicca, die in der Mitte des 1. Jahrhunderts den Aufstand gegen das römische Imperium anführte. Gleich zwei Bücher zeigen George Harrison in romantischen Verwicklungen und ebenfalls zwei handeln von kritischen Phasen in Stephen Kings Karriere. Derlei Dopplungen bedeuten in der Regel das Aus für mindestens eines der Projekte; auf einer früheren »Black List« tauchten zwei Bücher über die Verfilmung von »Der Pate« auf, von denen man seither nichts mehr hört. Es bleibt ohnehin die Frage, wer sich solche Insiderdramen überhaupt anschauen will.
Es fällt auf, dass es sich bei den Projekten kaum je um klassische Biopics handelt, wie sie vor ein paar Jahren in Hollywood wieder in Mode kamen. Zum Start von »The Aviator« schrieb ich in dieser Zeitschrift darüber einen Essay, der damit haderte, vielleicht gar daran verzweifelte, welch geringe Rolle die Originalität in ihnen spielt. Praktisch jede Biographie leistet Widerstand gegen ihre filmische Aufbereitung; wann geht ein Leben schon einmal so auf wie ein Drehbuch? Viele Autoren, die sich auf der diesjährigen, pardon: letztjährigen Liste platzieren konnten, haben womöglich aus dem Scheitern des damaligen Trends gelernt, der sich auch an der Kinokasse und bei Preisverleihungen niederschlug. Die Bücher nehmen Schlüsselmomente in den Blick, lebensgeschichtliche Wendepunkte. »The Builder« beispielsweise handelt von Donald Trumps Anfängen als Immobilienhai; »Lee« konzentriert sich auf die Vorbereitungen zu einer der spektakulärsten Modenschauen von Alexander McQueen; »The Last Days of Night« dramatisiert den Konkurrenzkampf von Thomas Alva Edison und George Westinghouse um die Elektrifizierung der USA.
Die Popularität solcher Stoffe in der Branche ist zweifellos auch dem Umstand geschuldet, dass sie sich griffig (soll heißen: in weniger als 25 Worten) pitchen lassen. Sie profitieren vom Wiedererkennungswert und der Beglaubigung durch die Realität: Sie haben schon einmal »funktioniert«. Das macht sie zu einer ähnlich bekannten Größe wie einen Bestseller, einen Comic, ein Videospiel oder einen Film, auf den sich ein Sequel beziehen kann. Auch in diesem Punkt ist das Klima der 1980er Jahre weiterhin konstituierend. Die wahren Geschichten, man schaue sich nur das Spätwerk von Clint Eastwood an, entsprechen heute durchaus dem, was in der Frühzeit des Blockbusterkinos »High Concept« genannt wurde. Wer weiß, ob »The Post« (über die Enthüllung der »Pentagon Papers«) nicht als Prequel zum Watergate-Film »Die Unbestechlichen« gepitcht wurde? »Dark Money«, der die Verstrickung eines jungen Börsenmaklers in den »biggest insider trading scandal in history« verhandelt, ließe sich wahrscheinlich mühelos als der nächste »The Big Short« verkaufen.
Ein faszinierender Aspekt dieses Trends liegt in der Entdeckung, dass der jüngeren Zeitgeschichte verborgene Strukturen zugrunde liegen, die bezeichnend, dramatisch oder gar heroisch anmuten. Die Autoren schauen auf die Gegenwart mit der Neugierde eines Archäologen. Dass die Wirklichkeit Geschichten hergibt, die keinen Nachbesserungsbedarf aufweisen oder den Gestus der Überbietung mobilisieren, führte unlängst der wunderbar besonnen und nüchtern erzählte »Spotlight« vor Augen. Darf man also dem Nachleben der »Black List« als hoffnungsvoller Agnostiker entgegenblicken?
Jedes gute Drehbuch stellt seine eigenen Regeln auf. Das ist ein Versprechen, das auch 2017 als tröstliches Gegengift zur Formelhaftigkeit gelten darf. Dennoch irritiert mich die neu entdeckte Wahrheitsliebe Hollywoods. Sie könnte momentan fast das einzige Gegenmittel sein. Die Fiktion scheint vollends an Fantasy- und Superhelden-Franchises delegiert, der Erfindungsreichtum wird von der neuen Autorengeneration anscheinend nicht sehr hoch gehalten. Sie erstreiten sich keine Geschichten, sondern adaptieren sie.
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