Im faktischen Zeitalter
Die Nürnberger Prozesse, die heute vor 71 Jahren begannen, gelten als das erste Strafverfahren, bei dem die Anklage Filmausschnitte zur Beweisführung heranzog. Ich hatte das große Glück, einen der Männer kennenzulernen, die diese filmischen Indizienbeweise zusammenstellten.
Ende der 1980er Jahre lernte ich den Kinderdarsteller, Cutter und späteren Regisseur Robert Parrish kennen. Er war, vor dem Mikrofon, auf dem Papier und hinter der Kamera, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seine Lebenserinnerungen »Growing up in Hollywood«, »Hollywood doesn't live here anymore«) sind schelmisch und aufschlussreich. Er trat in Filmen von Chaplin und Ford auf, gewann für den Schnitt von »Body and Soul« (Jagd nach Millionen) 1948 einen Oscar und drehte selbst großartige Filme wie »Flammen über Fernost« mit Gregory Peck und »Heiße Grenze« mit Robert Mitchum. Er sprach nur ungern über sich selbst, sondern lieber über die Großen, mit denen er gearbeitete hatte (was zu einem erheblichen Problem werden sollte, als ich eine Fernsehdokumentation über ihn drehte). Eine der Leitfiguren seines Lebens war John Ford, der auch den Film überwachte, den Bob für den Kriegsverbrecherprozess montierte.
Er erzählte mir, dass er, sein Freund Budd Schulberg und ihre Kollegen im Spätsommer 1945 die Anklageschrift des Internationalen Militärgerichtshofs erhielten und in Wochenschauen und Propagandafilmen der Nazis nach belastenden Passagen suchen sollte. Das lief in etwa so ab: »Wenn es in der Anklageschrift hieß, Baldur von Schirach habe das und das gesagt«, berichtete er, »dann mussten wir die Archive durchforsten, um genau diesen Satz zu finden.« Zu dem Material, aus dem schließlich »Der Nazi-Plan« entstand, gehörten auch Aufnahmen, die der Regisseur George Stevens bei der Befreiung von Dachau gedreht hatte. Nach Bobs Auskunft dauerte der fertige Film 13 Stunden, anderen Quellen sprechen jedoch von 194 Minuten. In dieser Länge führen ihn auch das Bundesarchiv und das Nationalarchiv in Washington. Ich würde ihn gern sehen; laut Wikipedia lief er zuletzt vor zehn Jahren im Bayerischen Rundfunk.
Ein anderer, ebenfalls weitgehend unsichtbarer Film über den Prozess ist »The Memory of Justice« von Marcel Ophüls. Er lief in Cannes und Venedig und wurde 1977 für den Oscar als Bester Dokumentarfilm nominiert. Ich habe ihn nur einmal Anfang der 90er Jahre im Rahmen einer Retrospektive im Berlin Arsenal gesehen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der Chefankläger Telford Taylor und die Bilanz, die eine Zeitzeugin zieht: Nach all den Schrecknissen will sie erstmal nur noch Lubitsch-Filme sehen. Die damalige Vorführung war offenbar ein großer Glücksfall, denn die Rechtelage ist heillos verworren. Heute darf er, wenn überhaupt, nur in nicht-kommerziellem Rahmen gezeigt werden. Im letzten Jahr lief er für ein paar Tage im Stadtkino in Wien und dann im Berliner Zeughauskino. In der vergangenen Woche wurde er auf einer Fortbildung der Landeszentrale für politische Bildung gezeigt. Die Verdrängung eines der wichtigsten Dokumentarfilme des letzten Jahrhunderts ist ein empörender, nicht nur für seinen Regisseur unerträglicher Zustand.
Die Unübersichtlichkeit der Rechtesituation ist nicht zuletzt der haarsträubenden Produktionsgeschichte geschuldet. Ich vermute aber, sein Verschwinden hat auch damit zu tun, dass Ophüls' nicht nur die Kriegsverbrechen der Nazis in den Blick nimmt, sondern den Fokus auf den Algerien- und Vietnamkrieg erweitert. Vor ein paar Wochen erläuterte mir Ralph Eue, einer der besten Kenner seines Werks (er ist Mitherausgeber der schönen Textsammlung »Widerreden und andere Liebeserklärungen«), aus welchen Gründen eine Auswertung des Films derzeit unmöglich ist. Allein in den USA gebe es rund 30 Rechteinhaber oder Rechtsnachfolger. Bei ihnen handle es sich um stille Teilhaber, deren Einlagen 1976 dazu dienten, den Film »freizukaufen« von den europäischen Co-Produzenten, mit denen Ophüls sich zerstritten hatte. Auch der Verleiher Paramount hält Anteile. Bis zum Zeitpunkt der Restaurierung des Films durch Scorsess »Film Foundation« hat nach Ralphs Einschätzung kein Finanzier auch nur einen Cent an Rückflüssen erhalten. Mit dem Bezahlsender HBO ist nun ein neuer Faktor in der Rechnung aufgetaucht, der den Investoren einen Teil ihres Geldes zurückgezahlt hat.
Einen hervorragenden Überblick der chaotischen Gemengelage bietet die von Ralph herausgegebene Broschüre »Ein Meister der zielstrebigen Umwege«, die in Zusammenarbeit der Universität der Künste Berlin mit Synema, der österreichischen Gesellschaft für Film und Medien, entstand. Ich kann sie jedem, der sich für Zeit- und Filmgeschichte interessiert, ans Herz legen. Essays von Ralph und Michel Ciment schildern akribisch die Probleme, gegen die Ophüls zu kämpfen hatte: mit seinen Produzenten (David Puttnam spielt eine höchst unrühmliche Rolle), Verleihern (Paramount hat sich mit dem Alibistart in den USA ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert) und Fernsehredaktionen (das Faksimile eines Faxes des Regisseurs an ZDF und arte Films wirft furchtbare Schlaglichter auf die Versuche, den Film zu verstümmeln). Eine beherzte Cutterin schmuggelte die Filmrollen von London nach Paris, damit Ophüls den Schnitt beenden konnte.
In der Broschüre kommt er ausführlich und mit der ihm eigenen Angriffslust zu Wort; seine Arbeitsweise, vor allem seine Interviewtechnik verteidigt er glänzend. Der Film gewinnt auch Kontur in der Analyse von Lukas Foerster, der sich mit seiner spezifischen Montage von Dokumentarmaterial beschäftigt. Erika Manns Bericht vom Prozess ist ungeheuer lebendig. Dankbar bin ich auch für Brigitte Mayrs Zusammenstellung von Biographien der im Film auftauchenden Personen; etliche von ihnen blieben auch in ihrem Nachleben bewundernswert prinzipientreu. Ich habe viel erfahren und gelernt bei der Lektüre, über Fragen des Ethos' dokumentarischer Arbeit, über den Umgang mit Schuld und den Unterschied zwischen Dokumentation und Dokumentarfilm. Überhaupt ist das Büchlein ein Kabinettstück der feinsinnigen Differenzierungen. Man kann sich ein rechtes Bild machen.
Das muss vorerst leider genügen. Vor ein paar Wochen sagte mir Ralph, die Hoffnung auf eine DVD-Veröffentlichung habe er aufgegeben. Unterdessen arbeitete er an einer Edition von Ophüls' »Veillées d'armes« (Die Geschichte der Kriegsberichterstattung) mit, die im Januar bei absolut medien angekündigt ist. In einer Mail, die ich gestern von ihm erhielt, klang er einen Hauch zuversichtlicher: Vielleicht helfe ja der 90. Geburtstag von Ophüls im nächsten Jahr, dem Film seine Sichtbarkeit zurückzuerstatten.
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