Die Ferne ganz nah
Das Crossing-Europe-Festival in Linz ist eine der wichtigsten Plattformen für junges europäisches Kino geworden. In diesem Jahr zeigte es faszinierende Einblicke in einen Kontinent, in dem Migration inzwischen den Normalfall darstellt
Die Bewegung ist dem Festival im Titel eingeschrieben. Seit zehn Jahren lädt Direktorin Christine Dollhofer nach Linz, um dort anhand von Filmen die verschiedensten Länder Europas zu durchqueren. Der Zuschauer bekommt hier nicht nur Einblicke in die Fremde, in diesem Jahr handelten die Filme besonders häufig auch selbst von Bewegungen. Früher charakterisierte man mit »mobil« ein Land wie die USA, während das alte Europa als sesshaft galt. Die in Linz präsentierten Filme aber zeigten Europa als einen Kontinent des permanenten Transits. Ob Spanien oder Litauen, Frankreich oder Kroatien, überall bricht gerade jemand auf, wenn andere gerade ankommen. »Migranten«, das sind längt nicht mehr nur die anderen.
Kein Wunder also, dass das vorwiegend junge Publikum in Linz einen Film wie Long Distance des Spaniers Carlos Marques-Marcet bevorzugte. Es ist leicht, sich mit dem im Zentrum stehenden Paar zu identifizieren: Die Fotografin Alex (Natalia Tena) ist aus London nach Barcelona gezogen, wo sie mit dem Lehrer Sergi (David Verdaguer) zusammenlebt. Dann bekommt sie das Angebot, für ein Jahr nach Los Angeles zu gehen. Sergi kann nicht mit, das Lehrerexamen steht an. Aber es gibt ja Skype – und so protokolliert der Film, wie auch die neuesten Kommunikationsmittel die zunehmende Entfremdung durch eine solche Trennung nicht verhindern können.Wo Long Distance im Abbilden großer Distanzen noch ganz die Sicht aufs Private beschränkte, ging die Spanierin Liliana Torres im Preisträgerfilm Family Tour (ex aequo mit Les Apaches) einen Schritt weiter. Vordergründig bildet ihr Film nur einen Heimatbesuch ab. Eine junge Frau kommt aus Mexiko für einige Wochen zur Familie nach Spanien zurück. Ihre Mutter drängt sie, mit ihr sämtliche Tanten, Onkel und Cousins abzufahren. Der Familienhintergrund ist eher proletarisch als bürgerlich, und so setzt sich aus diesen Ausflügen nach und nach ein Bild des heutigen Spaniens zusammen, wie man es nur selten zu sehen bekommt.
Dass eine Einschränkung der Perspektive auf eine Person keine Einschränkung der Komplexität bedeutet, bewies auch der Italiener Alberto Fasulo in seinem Roadmovie Tir: Darin sieht man zu 90 Prozent nur einen Helden, Branko aus Kroatien, auf seinen langen Fahrten durch Europa. Aus wenigen Begegnungen mit Trucker-Kollegen und Telefongesprächen mit der Familie erfährt man jedoch genug, um eine präzise Vorstellung von den sozialen Umständen zu bekommen, die ihn, den ehemaligen Lehrer, zu diesem anstrengenden und einsamen Job führten.
Zum alles durchdringenden Motiv der Bewegung passte bestens, dass Gare du Nord in Paris, der meistfrequentierte Bahnhof Europas, gleich in mehreren Filmen eine prominente Rolle spielte. Zwei davon stammten von der gleichen Regisseurin. Mit Gare du Nord und Géographie Humaine hat Claire Simon einen Spielfilm und einen Dokumentarfilm mit dem Bahnhof im Zentrum gedreht, und im Nachhinein lässt sich nicht mehr bestimmen, welches Projekt dem anderen vorausging. Die Dokumentation Géographie Humaine hat in jedem Fall den Vorteil, dass hier mehr Geschichten vorkommen als im Spielfilm. Und es sind diese Einzelschicksale, die Simon in ihren Kurzinterviews vor die Kamera bekommt, die nun wiederum den Zuschauer bewegen: Sei es der Iraner, der einst zu Schah-Zeiten als verwöhnter junger Student nach Paris geschickt wurde und heute resigniert Tabak verkauft. Oder die Kubanerin, die ob der Schokoladenvielfalt zwanzig Kilo zunahm, als sie nach Paris kam – und nun das Pralinengeschäft führt. Oder die Französin, die ihr kleines Kind verloren hat und vor der Trauer in die Obdachlosigkeit geflohen ist. Oder der Vietnamese, der vormittags seiner Tante am Imbissstand aushilft, nachmittags studiert und abends sein Start-up-Unternehmen leitet. In ihrer Vielfältigkeit unterlaufen diese Lebensgeschichten das gängige Schreckensbild der »Flüchtlingsinvasion« nach Europa. Die Migration ist kein Krisenphänomen, sie ist Realität. Der Security-Angestellte Auguste, den es aus Eritrea hierher verschlagen hat, möchte es der einzigen in seinem Banlieue-Haus verbliebenen weißen Mieterin sagen: »Madame, Frankreich war vielleicht mal ganz weiß, aber das wird es nie mehr werden. Die Zeiten sind einfach vorbei.«
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