Schlesisches Himmelreich 2
In Görlitz widersetzen sich die Ablagerungen der Geschichte ihrem Verschwinden stärker als anderswo. Wie wir gestern feststellen konnten, macht dies das Kinoglück der Stadt aus. An einer Mauer in der Bergstraße etwa prangt eine Aufschrift, die partout nicht verschwinden will - auch wenn die Überzeugungen, die sich mit ihr verbinden. längst verblasst sind.
"Wählt Thälmann!" steht in großen, weißen Lettern auf der Backsteinwand. Der Schriftzug stammt nicht aus den 1920er Jahren, sondern ist vom Dreh eines Ernst-Thälmann-Biopic von 1985 übrig geblieben. Alle Versuche, ihn zu beseitigen, seien gescheitert, weil sich die Farbe zu tief ins Mauerwerk eingefressen hat. Das behaupteten zumindest Karina Thiemann und Uwe Stark während des Rundgangs durch die Altstadt. Gut ein Vierteljahrhundert später wurde sie jedoch übermalt. Erinnern Sie sich an die erste Einstellung von »The Grand Budapest Hotel«? In ihr trägt die Mauer die Aufschrift "Old Lutz Cemetery". Auf Wunsch der nostalgischen Görlitzer stellten die Ateliermaler aus Babelsberg nach Drehende den alten Zustand kunstfertig wieder her.
In der Totalen, mit der Wes Andersons Film beginnt, ist die Mauer nur das untere Segment einer kurios artifiziellen Bildkomposition. Über ihr ragen nicht etwa die tatsächlich dort stehenden Bäume empor. Vielmehr ist darüber ein Gemälde eingefügt, eine so genannte Matte, die eine Gebirgslandschaft des märchenhaften Schauplatzes Zubrowka zeigt. Anderson und seine Szenenbildner treiben ein verschmitztes Spiel mit realen Topographien; die Szenen im Inneren des Friedhofs entstanden in Krakau. Dennoch ist kein anderer Film so tief in Görlitz verankert wie dieser. Das Team blieb drei Monate in der Stadt. Ich stelle mir das als einen heiteren Ausnahmezustand vor. Der Flyer weist insgesamt zwölf unterschiedliche Drehorte aus, andere Filme kommen auf höchstens fünf. Es besitzt eine hübsche metaphorische Triftigkeit, dass die östlichste Stadt Deutschlands die "östlichste Republik in Europa" darstellt. Obwohl der Film ein so enges Bündnis mit seinem Drehort einging, betrachtet er ihn doch als einen Rohstoff, der stets neu zu verarbeiten ist. Ihm wird beständig eine andere Realität übergestülpt. Die Fassade des Hotels beispielsweise wurde vor der Stadthalle errichtet. Deren Festsaal dient zudem als Kulisse für den riesigen, menschenleeren Speisesaal, in dem F. Murray Abraham und Jude Law zusammen speisen.
Nur aus Rochefort, wo ich vor 20 Jahren auf einer Spurensuche der Filme von Jacques Demy Station machte, kannte ich es bisher, dass ein Ort seinen eigenen, cinéphilen Stadtplan herausgibt. Sonst musste ich mich meist auf meinen Spür- und Orientierungssinn verlassen. Und eigentlich verirre ich mich auch gern in einer fremden Stadt. In Görlitz fiel es leicht, eine Balance zwischen Zielstrebigkeit und absichtslosem Flanieren zu finden. Der Zufall verfährt hier ziemlich planvoll. So kamen wir auf dem Weg zum Jugendstil-Kaufhaus an dem gelben Straßenbahnwaggon vorbei, den Jeff Goldblum in "Budapest" nimmt. Bestimmt war das antike Vehikel für den Tag des offenen Denkmals aus dem Depot hervorgeholt worden. Die Tram spielt ebenfalls eine dramaturgisch unverzichtbare Rolle in »Der Vorleser«. Sie gab mit den Ausschlag für die Entscheidung, die 50er-Jahre-Passagen hier zu drehen. Der Hinweis dazu, das hatten uns am Vortag unsere Fremdenführer erklärt, stammte von Bernard Schlink, dem Autor der Romanvorlage, der hier einmal Station auf einer Lesereise machte. Die Dreharbeiten müssen verschwenderisch aufwändig gewesen sein. Für den Hintergrund einer Straßenbahnszene wurden Dekors hinzugebaut und viele Statisten rekrutiert, was man im Film dann aber kaum sehen kann, da die Scheiben beschlagen waren.
Mittags erreichten wir das Kaufhaus, dem Höhepunkt der kleinen Expedition, welchem ich seit Tagen entgegenfieberte. Beim Betreten versteht man augenblicklich, weshalb Andersons Location Scouts es ausgesucht haben: Seine Architektur kommt der Liebe des Regisseurs zur Symmetrie sehr entgegen. Die in hellbraunem Marmor ausgeführten Säulen und das Treppenhaus sind ein prunkender Blickfang; ebenso das prachtvolle Jugendstil-Glasdach. Die Conciergeloge wurde auf halber Treppe installiert. Im Grunde ist der großzügige Innenraum ein Filmstudio für sich, das sich vielfach bespielen lässt. Ein Regisseur oder Szenenbildner, der sich von ihm nicht inspirieren lässt, hat den Beruf verfehlt. (Im Film wirkt es sogar noch etwas tiefer: Ein paar Tage nach dem Besuch schaute ich mir „Budapest“ noch einmal an und stellte entzückt fest, wie witzig allein schon die Bewegung von Figuren im Raum sein kann, wenn ein Regisseur sie phantasievoll kadriert.) Nachdem die leerstehende Immobilie dank des Filmdrehs so viel Furore machte, hat sich übrigens ein Investor gefunden, der das Kaufhaus zu neuem Leben erwecken will.
Am Ende des gestrigen Filmrundgangs wollte ich von unseren Führern natürlich auch wissen, wo denn die Drehorten zu „Frantz“ lägen, für den Francois Ozon vor gut einem Jahr nach Görlitz kam. Der Großteil der deutschen Szenen dieses wunderschönen Melodrams wurde im Harz gedreht, hauptsächlich in Quedlinburg, ein paar Szenen in Wernigerode. Görlitz lieferte nur einen Schauplatz, der allerdings von entscheidender Bedeutung ist: der Nikolaifriedhof. Er ist bekannt für seine barocken Grabstätten. Seine Hanglage fand ich ebenso beeindruckend, weil sie mir gut zu passen schien zur Topographie des Films, in dem es immer wieder um das Überwinden von Höhenunterschieden geht. In den Friedhofsszenen spielt weder das eine noch das andere eine nennenswerte Rolle.
Auch hier wird das reale Görlitz nachgebessert: Frantz' Grab liegt direkt vor dem Eingang der Kirche, in einer fiktiven Reihe von Grabstätten, von denen man annehmen darf, dass sie gleich nach dem Weltkrieg ausgehoben wurden – was sich einerseits historisch nachvollziehen lässt, bei genauerer Betrachtung jedoch unlogisch ist: Hätte eine alteingesessene Familie wie die Hoffmeisters nicht eine angestammte Grabstelle? Pascal Martis Kamera nimmt den Hintergrund nur vorbehaltlich in den Blick, bleibt fokussiert auf die zwei Hauptfiguren, die sich hier erstmals begegnen. Das tut sie mit vollem Recht. Dennoch liegt für mich ein Hauch von Vergeudung über diesen Szenen: Hätte die eigentümliche Anmutung dieses Friedhofes den Film nicht bereichert?
Sie merken schon: So kleinlich kann man werden, wenn man die realen Drehorte kennt! Dabei ist »Frantz« eine Meisterleistung der Location scouts (oder, um Ozons Muttersprache auch einmal in ihr Recht zu setzen, der répereurs): die Fachwerkensembles, der kleine Bach in der Ortsmitte, die Felslandschaft. Die Schauplätze sind so beredsam wie die vorzüglichen deutschsprachigen Dialoge. Lauter Gründe, zur nächsten Schauplatzsuche in den Harz aufzubrechen! Aber vorher noch einmal zurück nach Görlitz. Nach dem gestrigen Eintrag wurde ich gefragt, was es mit der Überschrift auf sich hat. Mit ihr hat es eine auch kulinarische Bewandtnis: "Schlesisches Himmelreich" ist eine rustkale, schmackhafte Spezialität der Region, die aus Kassler, Backobst und Klößen besteht.
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