Kritik zu Sieniawka
Dffb-Student Marcin Malaszczak macht in seinem genresprengenden Langfilmdebüt das Innere einer psychiatrischen Anstalt zur Weltmetapher
Man kann bei diesem Film nach einer halben Stunde die Geduld verlieren. Denn was bis dahin zu sehen ist (ein Kosmonaut in Unterwäsche und vermutlich obdachlose alte Männer, die in wenig Licht in einer morschen Braunkohlenhalde und um diese herumstreunen) scheint arg düster und erratisch. Doch es wäre falsch, dann aufzugeben. Denn plötzlich ändert sich die Stimmung auf der Leinwand, und der Film schlägt eine neue, manchmal fast humoristische Tonart an: Er wandert vom Wald in ein altes Gemäuer, und die alten Männer ziehen in einen Speisesaal, der sich langsam mit hereinschlurfenden oder hereingekarrten gebrechlichen Exemplaren füllt.
Wir sind in Sieniawka, was neben einem Dorf an der deutsch-polnischen Grenze vor allem die dort befindliche Institution bezeichnet, deren Namen in Polen als Synonym für das Prinzip Irrenhaus gilt. Hier scheint die Uhr zurückgedreht in Zeiten, in denen psychisch Kranke noch ohne jede Therapie in sogenannten Anstalten aufbewahrt wurden. Einige Filme über solche Institutionen wie Fred Wisemans Titicut Follies (1967) oder Raymond Depardons San Clemente (1982) sind heute Klassiker des Dokumentarfilms. Marcin Malaszczak, als Abkömmling ehemaliger Sieniawka-Angestellter selbst höchst vertraut mit der abgeschiedenen institutionellen Welt, dürfte als Regiestudent an der Berliner dffb diese Tradition kennen und setzt ihr eine formal wie inhaltlich eigenwillige und eher philosophisch als sozialkritisch inspirierte Arbeit gegenüber.
Dabei geht die Bewegung im scheinbar dokumentarischen Mittelteil der Arbeit wieder von innen nach außen und mischt verharrende Einstellungen und bedächtige Schwenks durch die Räume der Anstalt zu einem ausgetüftelten Soundscape. In einem Raucherzimmer werden Kippen hin und her gereicht. Dann wippt man tänzelnd zu einer »selbst gemachten« Techno-Disco. In der dominierenden Lichtlosigkeit erwischen die Sonnenstrahlen von draußen mal ein weißes Hemd oder einen Blumenstrauß und lassen sie uns entgegenfunkeln. Bis dann nach fast einer Stunde endlich die Tür nach draußen aufgeht und die Bewohner langsam im Pulk hinaus ins freie Grüne kommen, wo man im Sonnenlicht herumflaniert oder mit einem nicht vorhandenen Ball Schlagball spielt.
Am schönsten ist eine Dreiersitzung auf einer Bank mit einem musikalischen Duett zwischen einem Akkordeonspieler und einem Mann, der einem alten Radio rhythmische Tonfetzen entlockt. Hier und insgesamt bleibt es offen, wie weit solche Arrangements spontan oder dem offensichtlichen Gestaltungswillen des Regisseurs entsprungen sind. Denn Sieniawka ist trotz der eher spärlichen Handlung faszinierend dicht komponiert, wenn auch mit der langen Eingangssequenz und der Gesamtlänge von zwei Stunden nicht unbedingt massenfreundlich. Interpretieren muss das jeder für sich selbst. Der ebenso offensichtliche Voyeurismus sei Malaszczak als selbst »Betroffenem« erlaubt. Nach dem Kunstgenuss folgt das Grübeln, ob es nun das Paradies oder die Hölle war, was wir in Sieniawka gesehen haben.
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