Im Land der Nudelsuppenmänner
Sein Kollege Billy Wilder war bekanntlich nie um das treffende Bonmot verlegen, wenn es galt, eine tragische Situation zu parieren. Als er nach dem Krieg in Nazi-Deutschland als Colonel in der Abteilung für Psychologische Kriegsführung für die Umerziehung zuständig war und die Aufführung eines Passionsspiels freigeben sollte, stellte er eine Bedingung: »Aber nur, wenn Sie echte Nägel verwenden!«
In Orson Welles' Reisebericht aus Nachkriegsdeutschland steht die Oberammergauer Darstellerschar ebenfalls auf dem Prüfstand. Jesus solle auch ein führender Nazi gewesen sein, klärt ein britischer Offizier den reisenden Regisseur und Schauspieler auf. Wohin Welles bei seiner Exkursion auch schaut – eine entschlossene, gelingende Anpassungsleistung an die Demokratie mag er den Deutschen schwerlich unterstellen. Seine Reportage erschien zuerst im Herbst 1950 in der Zeitschrift »France Dimanche« und erregte sogleich diesseits des Rheins die Gemüter. Seine Impressionen wurden als eine einzige Schmähung empfunden. Es wurde zum Boykott seiner Filme aufgerufen, angeblich lauerten dem nun unwillkommenen Gast regelmäßig Demonstranten vor seinen Hotels auf. Später revidierte Welles seine Äußerungen ein wenig, er sei möglicherweise doch ein etwas eiliger Reisender gewesen.
Nun liegt die Reportage zum ersten Mal auf Deutsch vor, ist unter dem Titel »Mystiker, Musiker, Militaristen« im »Schreibheft« Nummer 86 erschienen (www.schreibheft.de). Es ist ein bemerkenswerter Text, sowohl als Zeitdokument wie als Einblick in Welles' Denkwerkstatt. Er durchlief mehrere Fassungen, erschien auch in Italien als Fortsetzungsgeschichte und schließlich im März des folgenden Jahres unter dem Titel »Thoughts on Germany« in der Londoner Zeitschrift »The Forthightly«. Der Übersetzung liegt diese Variante zugrunde. In seinem knappen Nachwort hebt Gerd Schäfer einige Veränderungen hervor, die Welles vornahm. In der ersten Fassung ließ er noch eine Vielzahl illustrer Gesprächspartner auftreten: Als Berühmtheit trifft man eben vorzugsweise auf andere, bedeutende Zeitgenossen. Diese mondäne Verengung ist in der letzten Fassung etwas zurückgenommen. Nun umgibt er sich mit Gesprächspartnern, die weitgehend anonym bleiben. Kurz erwähnt er den Regisseur Anatole Litvak, der in München »Entscheidung vor Morgengrauen« dreht und bezeugen kann, wie zackig und effizient die dortigen Teams sind. Weit mehr Raum nimmt der Rüstungsfabrikant Fritz Mandl ein, der sich zur Frage der Wiederbewaffnung äußert – wir befinden uns immerhin am Beginn des Kalten Krieges, dem Land könnte nun eine zentrale Funktion als Bollwerk gegen den Kommunismus zufallen – und in dem ansatzweise bereits Mr. Arkadin aufscheint. Welles ist sichtlich fasziniert von ihm und weist süffisant darauf hin, sie hätten gemein, schon einmal mit einem Filmstar verheiratet gewesen zu sein (im Falle Mandls handelt es sich um Hedy Kiesler/Lamarr, Welles wiederum spielt auf seine turbulente Ehe mit Rita Hayworth an).
Er begibt sich nicht als Argloser ins Ausland. 1929 war er erstmals mit Freunden nach Deutschland (sowie Frankreich und Italien) gereist, seitdem nicht mehr. Vor dem Aufkommen des Faschismus in Europa hat er beharrlich gewarnt (etwa in seinem unverfilmten Drehbuch zu »Heart of Darkness«; siehe meinen Eintrag »Hörkino 3« vom 8. November letzten Jahres) und später Präsident Roosevelt tatkräftig unterstützt. Er ist ein politisch engagierter, erregbarer Künstler. Mein französischer Kollege Samuel Blumenfeld schrieb vor einiger Zeit, nach dem Krieg habe er in seinen Kolumnen für die »New York Post« und Radiokommentaren für ABC vor dem Wiedererstarken nationalsozialistischen Denkens gewarnt. Ich konnte dafür in Welles-Biographien keinen Beleg finden. Politisch brisant waren diese zum Teil dennoch. Und mit »The Stranger« (Die Spur des Fremden) bewies Welles 1946 diesbezüglich hohe Wachsamkeit: Es ist der erste Hollywoodfilm, in dem Dokumentar-Aufnahmen aus Konzentrationslagern zu sehen sind.
Daheim ist er, zur Zeit der ersten Anhörungen des Untersuchungsausschusses zu Unamerikanischen Umtrieben, wegen seiner liberalen Gesinnung durchaus verdächtig. Mit dem »unreifen« Antifaschismus, dessen man ihn zieh, bin ich in Tobias Amslingers Übersetzung nicht recht glücklich. Ich vermute, im Original taucht die in der McCarthy-Ära gebräuchliche Formel des »premature anti-fascism« auf, welcher doch wohl eher als »voreilig« gebrandmarkt wurde.
Seine Reportage ist das Nebenprodukt der offenbar auch in Deutschland triumphal erfolgreichen Tournee »An Evening with Orson Welles«, die im Sommer in Paris ihre Premiere hatte. Das Programm bestand u.a. aus Shakespeare-Szenen, einer Kurzfassung von Oscar Wildes »Bunbury« sowie einer »Faust«- Bearbeitung; pikanterweise allerdings nicht nach Goethe, sondern Christopher Marlowe. An der Produktion waren auch Duke Ellington und Eartha Kitt beteiligt. Die Deutschlandpremiere fand am 7. August in Frankfurt statt. Welles gastierte nicht nur in Hamburg, München, Düsseldorf und zum Abschluss im Titaniapalst in Berlin. Als gebürtigen Westfalen freut es mich besonders, dass Welles Anfang September auch in der Nachbarstadt Bad Oeynhausen vor britischen Truppen auftrat. Ich müsste mal in Zeitungsarchiven nachforschen, welchen Eindruck er und Eartha Kitt in der tiefen Provinz hinterließen. Barbara Leamings Biographie konnte ich zumindest entnehmen, dass sein Bühnenpartner Michaél Mac Liammóir ganz hingerissen war von den jungen, schneidigen Besatzungsoldaten. Ihn kennen sie als Jago aus »Othello«, an dessen Schnitt der Regisseur 1950 zwischendurch auch arbeitete. In Interviews berichtete Welles immer voller Genugtuung von der Begeisterung, die ihm in Deutschland entgegenschlug. Der Applaus habe Stunden gedauert, zu unzähligen Vorhängen hätte er auf die Bühne zurückkehren müssen. Nachdem im Januar 1950 »Der Dritte Mann« in Deutschland angelaufen und er auch dort zu einem Kinostar geworden war, musste er sich Heerscharen von Verehrerinnen erwehren.
Von derlei Koketterie ist in seiner Reportage wenig zu spüren. Wenn er nun, zwanzig Jahre nach seinem ersten Besuch, das Land erneut in Augenschein nimmt, bereitet ihm das »Verdauungsprobleme«. Die Überzeugungen, die er im Reisegepäck hat, stoßen auf die blanke Unbelehrbarkeit der Kriegsverlierer. Kapellen in Hotelbars beenden nächtens ihr Programm mit dem Horst-Wessel-Lied; wohl schon aus Erschöpfung. Auch der Hitler-Gruß wird bei solchen Gelegenheiten regelmäßig entboten. Mit Blick auf ein eventuelles US-Publikum berichtet Welles von einem waschechten bar room brawl, bei dem er allerdings keine besonders heldenhafte Rolle spielt. Die Frage des deutschen Nationalcharakters zieht sich als Leitmotiv durch den Text, wobei nicht immer klar wird, ob sie sich aus der Perspektive der Besatzer stellt oder Indiz einer heillosen Selbstbezüglichkeit ist. Eine deutsche Freundin ruft Welles hier als Kronzeugin auf, die während der Fahrt auf der Autobahn über den Ehrgeiz der »Nudelsuppenmänner« philosophiert, in ihren Volkswagen stets die Ersten sein zu wollen. Hier zeigt sich Welles insgeheim auch als Bühnen- und Filmregisseur mit ausgeprägtem Gespür für bezeichnende Dekors hat. Dass diese Schnellstraßen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme der Nazis entstanden, muss er nicht betonen, zeitgenössischen Lesern wird es bekannt gewesen sein.
Welles ist Zeuge eines schleichenden Epochenwechsels, in dessen Verlauf »Deutschland von einem Problem zu einer Hoffnung« geworden ist. »Die erste Phase der Besatzung ist beendet,« schreibt er, »gekennzeichnet war sie durch einen offen bestrafenden Ton.« Geheuer sind ihm die neuen Verbündeten des Westens nicht. In seinen Sottisen kommt er dem agilen Sarkasmus seines Kollegen Wilder sehr nahe, dessen Angehörige in Auschwitz ermordet wurden und der sich zwei Jahre zuvor in »Eine auswärtige Affäre« mit den Fallstricken der Entnazifizierung auseinandersetzte. Welles' Beobachtungsgabe schlägt in einen ähnlich bissigen Wortwitz um. »Wenn man alles bedenkt, ist ziemlich viel von München übriggeblieben,« notiert er einmal, »ein Großteil der falschen Gotik und ein bisschen was von echtem Barock.« Das bringt mich auf die Dreharbeiten Wilders im zerbombten Berlin, die zeitgleich mit denen zu Rossellinis »Deutschland im Jahre Null« und Jacques Tourneurs »Berlin Express« stattfanden. Habe ich Ihnen je erzählt, wie die drei Filmteams Ruinen markierten, damit sie nicht an den selben Schauplätzen drehten? Aber das führt nun wirklich zu weit. Besser, ich kehre zum »Schreibheft« zurück und vermerke abschließend, wie elegant dies in Wort und Bild von Welles zum nächsten Thema hinüberwechselt, dem schillernden Briefwechsel zwischen Henry James und Robert Louis Stevenson, der die Lektüre mindestens ebenso lohnt.
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